von Schirach, Ferdinand
diese Telefonnummer
nur an solche herausgegeben werde.
Ich fuhr zur Mordkommission in
der Keithstraße. Es spielt keine Rolle, ob Polizeistationen in einem modernen
Glas-Stahl-Hochhaus oder in einer zweihundert Jahre alten Wache untergebracht
sind - sie alle gleichen sich. In den Fluren liegt graugrünes Linoleum, es
riecht nach Putzmittel, und in den Vernehmungszimmern hängen überdimensionale
Katzenposter und Postkarten, die Kollegen aus dem Urlaub schickten. Auf
Bildschirmen und Schranktüren kleben ausgeschnittene Scherzsprüche. Es gibt
lauwarmen Filterkaffee aus orange-gelben Kaffeemaschinen mit eingebrannter
Wärmeplatte. Auf den Tischen stehen dicke »I love Hertha«-Tassen, Helit-Stifteköcher
aus hellgrünem Plastik, und manchmal hängen an den Wänden Fotos in rahmenlosen
Glashaltern, die ein Beamter von Sonnenuntergängen gemacht hat. Die Einrichtung
ist praktisch und lichtgrau, die Zimmer zu eng, die Stühle zu ergonomisch, auf
den Fensterbrettern stehen Pflanzen im Blähton.
Kriminalhauptkommissar Dalger
hatte Hunderte von Vernehmungen durchgeführt. Als er vor sechzehn Jahren zur
Mordkommission kam, war das die Krone des Polizeiapparats. Er war stolz
gewesen, dass er es geschafft hatte, und er wusste, dass er seinen Aufstieg vor
allem einer Eigenschaft verdankte: Geduld. Er hörte, wenn es sein musste,
stundenlang zu, nichts war ihm zu viel, und er fand nach den langen Jahren im
Polizeidienst noch immer alles interessant. Dalger mied die Vernehmung beim
ersten Zugriff, wenn alles noch frisch war und er wenig wusste. Er war der Mann
für Geständnisse. Es gab bei ihm keine Tricks, keine Erpressung und keine
Demütigung. Das erste Verhör überließ Dalger gerne den Jüngeren; er wollte erst
fragen, wenn er meinte, alles über den Fall zu wissen. Er hatte ein brillantes
Gedächtnis für Einzelheiten. Er verließ sich nicht auf sein Gefühl, auch wenn
es ihn noch nie getäuscht hatte. Dalger wusste, dass die absurdesten
Geschichten wahr und die glaubhaften erlogen sein können. Vernehmungen, sagte
er zu den jüngeren Kollegen, sind harte Arbeit. Und er vergaß nie hinzuzufügen:
»Folgen Sie dem Geld oder dem Sperma. Jeder Mord klärt sich so auf.«
Obwohl wir fast immer
unterschiedliche Interessen hatten, respektierten wir uns. Und als ich mich
endlich zu ihm durchgefragt hatte und das Vernehmungszimmer betrat, schien er
fast erfreut, mich zu sehen. »Wir kommen hier nicht weiter«, war das Erste, was
er sagte. Dalger wollte wissen, wer mich beauftragt habe. Ich nannte den Namen
der Wirtschaftskanzlei, Dalger zuckte die Schultern. Ich bat alle, das Zimmer
zu verlassen, um ungestört mit meinem Mandanten sprechen zu können. Dalger
grinste: »Na, dann viel Erfolg.«
Der Mann sah erst auf, als wir
alleine waren. Ich stellte mich vor, er nickte höflich, aber er sagte nichts.
Ich versuchte es auf Deutsch, Englisch und mit ziemlich schlechtem Französisch.
Er sah mich nur an, aber er sagte kein einziges Wort. Den Stift, den ich vor
ihn legte, schob er zurück. Er wollte nicht sprechen. Ich legte ihm einen Vollmachtsvordruck
vor, irgendwie musste ich dokumentieren, dass ich ihn vertreten sollte. Er
schien nachzudenken, und plötzlich tat er etwas Seltsames: Er öffnete ein
Stempelkissen, das auf dem Tisch stand, und presste seinen rechten Daumen erst
in die blaue Farbe und dann in das Unterschriftsfeld der Vollmacht. »Auch eine
Möglichkeit«, sagte ich und nahm die Vollmacht an mich. Ich ging in Dalgers
Büro, der mich fragte, wer der Mann sei.
Diesmal zuckte ich mit den
Schultern. Dann erklärte er mir ausführlich, was vorgefallen war.
Dalger hatte den Mann am
Vortag von der Bundespolizei, die für den Bahnhof verantwortlich war,
übernommen. Der Mann hatte weder bei seiner Festnahme noch auf dem Transport,
noch bei dem ersten Vernehmungsversuch in der Keithstraße einen Ton gesagt. Man
hatte es mit verschiedenen Dolmetschern versucht, man hatte ihm die Belehrung
zur Vernehmung in 16 Sprachen
vorgelegt - nichts.
Dalger hatte die Durchsuchung
des Mannes angeordnet, aber man hatte nichts gefunden. Er hatte keine
Brieftasche, keinen Ausweis und keine Schlüssel. Er zeigte mir das sogenannte
Durchsuchungsprotokoll Teil B, das die Gegenstände auflistete, die gefunden
wurden. Es gab sieben Positionen:
1. Taschentücher
der Marke Tempo mit einem Preisschild der Bahnhofsapotheke;
2. Zigarettenpäckchen
mit sechs Zigaretten, deutsche Steuerbanderole;
3.
Weitere Kostenlose Bücher