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von Schirach, Ferdinand

von Schirach, Ferdinand

Titel: von Schirach, Ferdinand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verbrechen
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unabhängig.
     
    Lambrecht las die Aussagen der
Zeugen, und nachdem es auch ihm nicht gelang, den Mann zum Sprechen zu bringen,
verlangte er, das Video zu sehen. Wir mussten es mit ihm ungefähr einhundertmal
hintereinander ansehen, ich konnte die Bilder schon zeichnen, es dauerte eine
Ewigkeit.
     
    »Schalten Sie das Ding ab«,
sagte er endlich zu dem Wachtmeister und wandte sich an uns. »Nun, meine
Herren, ich höre.«
    Natürlich
hatte Resting bereits den Entwurf des Haftbefehls übergeben, ohne den der Termin gar
nicht möglich wäre. Er beantragte, den Mann wegen Totschlags in zwei Fällen zu
inhaftieren, es bestünde Fluchtgefahr, da der Mann ohne nachweisbare Identität
sei. Kesting sagte: »Sicherlich könnte man daran denken, dass eine
Notwehrsituation gegeben sei. Aber dann läge ein Exzess vor.«
    Die Staatsanwaltschaft wollte
also auf einen sogenannten Notwehrexzess hinaus. Wenn man angegriffen wird,
darf man sich wehren, und man ist in der Wahl der Mittel nicht beschränkt.
Gegen einen Faustschlag darf man einen Knüppel, gegen ein Messer eine Pistole
einsetzen, man muss nicht das mildeste Mittel wählen. Aber man darf es auch
nicht übertreiben: Dem Gegner, den man bereits kampfunfähig geschossen hat,
darf man nicht auch noch den Kopf abschlagen. Solche Exzesse duldet das Gesetz
nicht.
    »Der Exzess bestand darin,
dass der Mann auf das Messer in der Brust des Opfers geschlagen hat«, meinte Kesting.
    »Aha«, sagte Lambrecht. Er
klang verwundert. »Herr Verteidiger bitte.«
    »Wir alle wissen, dass das
Unsinn ist«, sagte ich. »Niemand muss einen Angriff mit einem Messer dulden,
und natürlich durfte er sich in dieser Form wehren. Es geht der Staatsanwaltschaft
auch gar nicht um diese Fragen. Staatsanwalt Kesting ist viel zu erfahren, um
zu glauben, dass er eine solche Anklage vor einem Schwurgericht durchbrächte.
Es geht ihm schlicht darum, dass er die Identität des Mannes ermitteln will
und dafür Zeit braucht.«
    »Stimmt das, Herr Staatsanwalt?«,
fragte Lambrecht.
    »Nein«, sagte Kesting. »Die
Staatsanwaltschaft stellt keine Haftanträge, die sie nicht ernst meint.«
    »Aha«, sagte der Richter
wieder. Diesmal klang es ironisch. Er wandte sich an mich. »Können Sie uns denn
sagen, wer der Mann ist?«
    »Sie wissen, Herr Lambrecht,
dass ich das nicht darf, selbst wenn ich es könnte. Aber ich kann eine
ladungsfähige Anschrift nennen.« Ich hatte inzwischen nochmals mit dem Anwalt,
der mich beauftragt hatte, telefoniert. »Der Mann kann über eine Kanzlei
geladen werden, die Zustimmung des Anwaltes kann ich mündlich versichern.« Ich
übergab die Adresse.
    »Sehen Sie«, rief Kesting. »Er
will es nicht sagen. Er weiß viel mehr, aber er will es nicht sagen.«
    »Das Verfahren richtet sich
nicht gegen mich«, sagte ich. »Aber es verhält sich doch so: Wir wissen nicht,
weshalb der Beschuldigte schweigt. Es könnte sein, dass er unsere Sprache
nicht versteht. Es könnte aber auch sein, dass er aus anderen Gründen
schweigt...«
    »Er verstößt damit gegen §111 Ordnungswidrigkeitengesetz«,
fiel Kesting mir ins Wort. »Es ist ganz klar, dass er dagegen verstößt.«
    »Meine Herren, ich wäre
dankbar, wenn Sie nacheinander sprechen könnten«, sagte Lambrecht. »§ 111
besagt, dass jeder seine Personalien angeben muss. Da gebe ich der Staatsanwaltschaft
recht.« Lambrecht setzte dauernd seine Brille auf und ab. »Aber es ist
natürlich keine Vorschrift, die einen Haftbefehl rechtfertigt. Lediglich zwölf
Stunden darf jemand zur Personalienfeststellung festgehalten werden. Und die
zwölf Stunden, Herr Staatsanwalt, sind schon lange überschritten.«
    »Außerdem«, sagte ich, »muss
der Beschuldigte seine Personalien auch nicht immer nennen. Wenn er sich durch
wahrheitsgemäße Angaben der Gefahr der Strafverfolgung aussetzen würde, darf er
schweigen. Würde also der Mann sagen, wer er ist, und würde das zu seiner
Verhaftung führen, darf er natürlich schweigen.«
    »Da sehen Sie es«, sagte Kesting
zu dem Ermittlungsrichter. »Er sagt uns nicht, wer er ist, und wir können
nichts machen.«
    »So ist es«, sagte ich. »Sie
können nichts machen.«
     
    Der Mann saß teilnahmslos auf
der Bank. Er trug ein Hemd mit meinen Initialen; ich hatte es ihm bringen
lassen. Es passte gut, aber es sah eigenartig aus.
     
    »Herr Staatsanwalt«, sagte
Lambrecht, »gibt es eine Vorbeziehung zwischen dem Täter und den Opfern?«
    »Nein, davon wissen wir
nichts«, sagte Kesting.
    »Waren die Opfer

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