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von Schirach, Ferdinand

von Schirach, Ferdinand

Titel: von Schirach, Ferdinand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verbrechen
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alkoholisiert?«
Lambrecht hatte auch hier recht, einem Betrunkenen muss man in einer Notwehrsituation
eher ausweichen.
    »0,4 und 0,5 Promille.«
    »Das reicht nicht«, sagte der
Richter. »Haben Sie bei dem Täter irgendetwas gefunden, was noch nicht in den
Akten steht? Gibt es irgendeinen Hinweis auf ein anderes Verbrechen oder einen
anderen Haftbefehl?« Lambrecht schien eine Liste abzuhaken.
    »Nein«, sagte Kesting und
wusste, dass jedes Nein ihn weiter von seinem Ziel entfernte.
    »Gibt es Ermittlungen, die
noch ausstehen?«
    »Ja. Der vollständige
Obduktionsbericht liegt noch nicht vor.« Kesting war froh, doch noch etwas
gefunden zu haben.
    »Na ja, die beiden werden wohl
kaum an einem Hitzschlag gestorben sein, Herr Kesting.« Die Stimme Lambrechts
wurde jetzt weicher, ein schlechtes Zeichen für die Sache der
Staatsanwaltschaft. »Wenn die Staatsanwaltschaft nicht mehr vorbringen kann als
das, was ich hier auf dem Tisch habe, werde ich jetzt entscheiden.«
    Kesting schüttelte den Kopf.
    »Meine Herren«, sagte
Lambrecht, »ich habe genug gehört.« Er lehnte sich zurück. »Die
Notwehrsituation ist mehr als offensichtlich. Wenn jemand mit einem Messer und
einem Baseballschläger bedroht wird, wenn sogar nach ihm gestochen und
geschlagen wird, darf er sich wehren. Er darf sich so wehren, dass der Angriff
endgültig beendet wird, und nichts anderes hat der Beschuldigte getan.«
    Lambrecht machte eine kurze
Pause und fuhr dann fort: »Ich gebe der Staatsanwaltschaft recht, dass die
Sache ungewöhnlich aussieht. Ich kann die Ruhe des Beschuldigten, mit der er
den Opfern gegenübertrat, nur erschreckend finden. Aber ich kann nicht
erkennen, wo dabei der behauptete Exzess liegen soll. Dass die Überlegung
richtig ist, ergibt sich auch daraus, dass ich sicher Haftbefehl gegen die
beiden Schläger erlassen hätte, wenn sie jetzt vor mir sitzen würden und nicht
auf dem Tisch der Pathologie lägen.«
    Kersting klappte seine Akte
zu. Es knallte zu laut.
    Lambrecht diktierte ins
Protokoll: »Der Antrag der Staatsanwaltschaft auf Haftbefehl wird abgelehnt.
Der Beschuldigte ist unverzüglich zu entlassen.« Dann wandte er sich an Kesting
und mich: »Das war's. Schönen Abend noch.«
    Während die Protokollführerin den Entlassungsschein
vorbereitete, ging ich vor die Tür. Dalger saß auf der Besucherbank und
wartete.
    »Guten Abend, was machen Sie
denn hier?«, fragte ich. Es ist unüblich, dass ein Polizist so viel Interesse
am Ausgang einer richterlichen Vorführung zeigt.
    »Ist er raus?«
    »Ja, es war eindeutig Notwehr.«
    Dalger schüttelte den Kopf.
»Hab ich mir gedacht«, sagte er. Er war ein guter Polizist, der seit 26 Stunden nicht geschlafen
hatte. Die Sache ärgerte ihn offensichtlich, auch das passte nicht zu ihm.
    »Was ist los?«
    »Naja, die andere Sache kennen Sie nicht.«
    »Welche andere Sache?«, fragte ich.
    »Am selben Morgen, an dem Ihr
Mandant festgenommen wurde, haben wir einen Toten in Wilmersdorf gefunden.
Messerstich ins Herz. Keine Fingerabdrücke, keine DNA-Spuren, keine Fasern,
nichts. Jeder aus dem Umfeld des Toten hat ein Alibi, und die 72 Stunden laufen ab.«
    Die 72 -Stunden-Regel besagt, dass
die Chancen, einen Mord oder Totschlag aufzuklären, nach 72 Stunden rapide sinkt.
    »Was wollen Sie damit sagen?«
    »Es war professionell.«
    »Messerstiche ins Herz kommen
doch öfter vor«, sagte ich.
    »Ja und nein. Jedenfalls kaum
so präzise. Die meisten müssen mehrmals stechen, oder das Messer bleibt in den
Rippen hängen. Normalerweise geht mehr schief.«
    »Und?«
    »Ich habe so ein Gefühl... Ihr
Mandant...«
    Es war natürlich mehr als nur
ein Gefühl: Es gibt jedes Jahr etwa 2400 entdeckte Tötungsverbrechen in Deutschland, rund 140 davon entfallen auf Berlin.
Das sind zwar mehr als in Frankfurt (Main), Hamburg und Köln zusammen, aber bei
einer Aufklärungsquote von 95 Prozent bleiben gerade einmal sieben Fälle, in denen
der Täter nicht gefasst wird. Und hier war eben ein Mann freigelassen worden,
der haargenau in Dalgers Theorie passte.
    »Herr Dalger, Ihr Gefühl ...«,
begann ich, er ließ mich nicht aussprechen.
    »Ja, ja, ich weiß«, sagte er
und wandte sich um. Ich rief ihm hinterher, er solle mich anrufen, wenn es
Neuigkeiten gebe. Dalger grummelte etwas Unverständliches wie »keine Veranlassung
... Anwälte ... Immer das Gleiche ...« und ging nach Hause.
     
     
    Der Mann wurde direkt aus dem
Verhandlungszimmer entlassen, er erhielt das Geld und die anderen

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