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von Schirach, Ferdinand

von Schirach, Ferdinand

Titel: von Schirach, Ferdinand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verbrechen
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Hemd und ritzte die Haut des Mannes, die
Wunde war 20 Zentimeter
lang, fast waagerecht, ein wenig Blut lief in den Stoff und hinterließ einen
gewellten roten Strich.
     
    Ein Arzt, der mit dem Frühzug
nach Hannover zu einer Urologenkonferenz wollte, stand am gegenüberliegenden
Bahnsteig. Er würde später aussagen, dass sich der Mann kaum bewegt habe, es
sei zu schnell gegangen. Die Bahnsteigkamera, die das Geschehen aufzeichnete,
zeigte nur Einzelstandbilder in Schwarz-Weiß.
     
    Beck holte erneut Schwung, Lenzberger
johlte. Der Mann umfasste Becks Messerhand und schlug dabei in seine rechte
Armbeuge. Der Schlag änderte die Richtung des Messers, ohne den Schwung zu
unterbrechen. Die Klinge beschrieb einen Bogen. Der Mann dirigierte die Spitze
zwischen Becks dritte und vierte Rippe, Beck stach sich selbst in die Brust.
Als der Stahl die Haut durchdrang, schlug der Mann hart auf Becks Faust. Alles
war eine einzige Bewegung, fließend, fast ein Tanz. Die Klinge verschwand
vollständig in Becks Körper. Sie zerschnitt sein Herz, Beck lebte noch vierzig
Sekunden. Er blieb stehen und sah an sich herunter. Er hielt den Griff des
Messers umklammert und schien die Tätowierung auf seinen Fingern zu lesen. Er
hatte keine Schmerzen, die Synapsen der Nerven übermittelten keine Signale
mehr. Beck verstand nicht, dass er gerade starb.
    Der Mann drehte sich zu Lenzberger
und sah ihn an. Er nahm keine besondere Haltung ein, er stand einfach nur da.
Er wartete. Lenzberger wusste nicht, ob er fliehen oder kämpfen sollte, und
weil der Mann noch immer wie ein Buchhalter aussah, entschied er sich falsch. Lenzberger
riss den Baseballschläger hoch. Der Mann schlug nur einmal zu, eine kurze
Bewegung zu Lenzbergers Hals, so schnell, dass die Einzelbilder der
Bahnhofskamera sie nicht festhalten konnten. Dann setzte er sich wieder und
beachtete seine Gegner nicht weiter.
    Der Schlag war präzise. Er
hatte den Karotis-Sinus getroffen, eine kurze Auftreibung der inneren
Halsschlagader. Dort, an diesem winzigen Punkt, befindet sich ein ganzes Bündel
von Nervenenden. Sie verstanden die Erschütterung als extreme Erhöhung des
Blutdrucks und sandten das Signal an Lenzbergers Großhirn, den Herzschlag zu
drosseln. Sein Herz schlug immer langsamer, sein Kreislauf kollabierte. Lenzberger
sank auf die Knie, der Baseballschläger fiel hinter ihm zu Boden, titschte noch
zweimal auf, rollte über den Bahnsteig und fiel ins Gleisbett. Der Schlag war
so hart gewesen, dass er die empfindliche Wand des Karotis-Sinus zerrissen
hatte. Blut drang ein und überreizte die Nerven. Ohne Unterbrechung sandten sie
jetzt das Signal, den Herzschlag zu hemmen. Lenzberger fiel mit dem Gesicht auf
den Bahnsteig, ein wenig Blut lief in die hellen Bodenrippen und staute sich
an einer Zigarettenkippe. Lenzberger starb, sein Herz hatte einfach aufgehört
zu schlagen.
     
    Beck stand noch zwei Sekunden.
Dann fiel auch er, sein Kopf klatschte gegen die Bank und hinterließ dort eine
rote Schliere. Dann lag er da, seine Augen waren offen, er schien die Schuhe
des Mannes zu betrachten. Der Mann rückte seine Brille wieder gerade. Er schlug
die Beine übereinander, zündete sich eine Zigarette an und wartete auf seine
Festnahme.
    Eine Polizeimeisterin traf als
Erste am Tatort ein. Sie war mit einem Kollegen losgeschickt worden, als die
beiden Glatzen den Bahnsteig betraten. Sie sah die Leichen, das Messer in Becks
Brust, das zerschnittene Hemd des Mannes, und sie registrierte, dass er
rauchte. In ihrem Gehirn gewannen alle Informationen die gleiche
Dringlichkeit. Sie zog ihre Dienstwaffe, richtete sie auf den Mann und schrie:
»Rauchen ist im gesamten Bahnhofsbereich verboten.«
     
     
    »Ein Key-Client hat uns um
Hilfe gebeten. Bitte kümmere dich um die Sache, wir übernehmen die Kosten«,
sagte der Anwalt am Telefon. Er sagte, er rufe aus New York an, aber es klang,
als säße er neben mir. Er machte es dringend. Er war Seniorpartner einer dieser
Wirtschaftskanzleien, die in jedem industrialisierten Land mindestens eine
Niederlassung haben. Ein »Key-Client« ist ein Mandant, an dem die Kanzlei viel
Geld verdient, ein Klient mit besonderen Rechten. Ich fragte ihn, worum es
gehe, aber er wusste nichts. Seine Sekretärin hatte von der Polizei einen
Anruf bekommen, ihr sei nur mitgeteilt worden, dass jemand am Bahnhof festgenommen
worden sei. Einen Namen habe sie nicht. Es ginge »wohl um Totschlag oder so
etwas«, mehr wisse sie nicht. Es sei ein »Key-Client«, weil

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