von Schirach, Ferdinand
Plastikfeuerzeug,
gelb;
4. Fahrschein
zweiter Klasse nach Hamburg-Hauptbahnhof föhne Sitzplatzreservierung);
5. 16540 Euro in
Scheinen;
6. 3,62 Euro in
Münzgeld;
7. Visitenkarte
der Anwaltskanzlei Lorguis, Metealf & Partner, Berlin mit einer Durchwahlnummer.
Das Merkwürdigste aber war,
dass seine Kleidung keine Etiketten aufwies - Hose, Jackett und Hemd konnten
von einem Schneider stammen, aber es gibt nicht viele Menschen, die sich Socken
und Unterhosen maßanfertigen ließen. Lediglich die Schuhe hatten eine Herkunft,
sie stammten von »Henschung«, einem Schuster aus dem Elsass - allerdings konnte
man sie in guten Geschäften auch außerhalb Frankreichs erwerben.
Der Mann wurde
erkennungsdienstlich behandelt. Man fotografierte ihn und nahm seine
Fingerabdrücke. Dalger ließ alle Datenbanken abfragen - es gab keinen Treffer,
der Mann war den Ermittlungsbehörden unbekannt. Auch die Herkunft der
Fahrkarte brachte nichts, sie war an einem Automat im Bahnhof gelöst worden.
Inzwischen hatte man das
Videoband aus dem Bahnhof gesichtet, den Arzt vom gegenüberliegenden Bahnsteig
und die erschrockene alte Dame gehört. Die Polizei hatte ebenso gründlich wie
ohne Ergebnis gearbeitet.
Der Mann war vorläufig
festgenommen worden, und er hatte die Nacht auf der Wache verbracht. Am
nächsten Tag hatte Dalger die Nummer auf der Visitenkarte angerufen. Er hatte
damit so lange wie möglich gewartet. Anwälte machen solche Dinge nie einfacher,
hatte er gedacht.
Wir saßen in Dalgers Zimmer
und tranken lauwarmen Filterkaffee. Ich sah mir das Videoband zweimal an und
sagte zu Dalger, dass es eine vollkommen klare, fast schon eine
Lehrbuchsituation für Notwehr sei. Dalger wollte den Mann nicht freilassen:
»Irgendetwas stimmt mit ihm nicht.«
»Ja, natürlich, das ist
offensichtlich. Aber außer Ihrem Gefühl gibt es keinen Grund, ihn
festzuhalten, das wissen Sie«, antwortete ich.
»Wir kennen noch nicht einmal
seine Identität.«
»Nein, Herr Dalger, das ist
das Einzige, was Sie nicht kennen.«
Dalger rief Staatsanwalt Resting an. Es war eine sogenannte
Kap-Sache, also ein Verfahren, für das die Abteilung für Kapitalverbrechen bei
der Staatsanwaltschaft zuständig war. Resting kannte den Fall bereits aus
dem ersten Bericht Dalgers. Er war ratlos, aber bestimmt: Eine Eigenschaft, die
der Staatsanwaltschaft manchmal hilft. Und deshalb entschied er, den Mann dem
Ermittlungsrichter vorführen zu lassen. Nach einigen Telefonaten bekamen wir
dort für den Nachmittag um fünf Uhr einen Termin.
Der Ermittlungsrichter hieß
Lambrecht und trug einen Norwegerpulli, obwohl es Frühling war. Er hatte einen
zu niedrigen Blutdruck, fror sein Leben lang und hatte ebenso lange schon
schlechte Laune. Er war 52 Jahre alt, und er wollte Klarheit, die Dinge mussten
geordnet sein, er wollte keine Dämonen mit nach Hause nehmen.
Lambrecht hielt an der
Hochschule Gastvorlesungen im Strafprozessrecht, die wegen der Beispiele, die
er vortrug, legendär waren. Den Studenten sagte er, es sei ein Irrtum zu
glauben, dass Richter gerne verurteilen. »Sie tun es, wenn es ihre Aufgabe ist,
aber sie tun es nicht, wenn sie Zweifel haben.« Der eigentliche Sinn der
richterlichen Unabhängigkeit sei, dass auch Richter ruhig schlafen wollen. An
der Stelle lachten die Studenten immer. Es war trotzdem die Wahrheit, er hatte
kaum Ausnahmen kennengelernt.
Die Stelle des
Ermittlungsrichters ist vielleicht die interessanteste in der Strafjustiz. Man
kann in jede Sache kurz reinsehen, man muss keine langweiligen
Hauptverhandlungen ertragen, und man muss auf niemanden hören. Aber das ist nur
die eine Seite. Die andere ist die Einsamkeit. Der Ermittlungsrichter
entscheidet allein. Alles hängt von ihm ab, er sperrt den Menschen ein oder
lässt ihn frei. Es gibt einfachere Berufe.
Lambrecht machte sich nichts
aus Verteidigern. Aber er machte sich auch nichts aus Staatsanwälten. Ihn
interessierte der Fall, und er traf Entscheidungen, die man nur schwer
vorhersehen konnte. Die meisten schimpften über ihn, seine viel zu große Brille
und seine blassen Lippen wirkten seltsam, aber alle hatten Achtung vor ihm. Zu
seinem zwanzigjährigen Dienstjubiläum hatte er vom Präsidenten des Amtsgerichts
eine Urkunde bekommen. Der Präsident hatte ihn gefragt, ob er nach so vielen
Jahren seinen Beruf immer noch gerne ausübe. Lambrecht hatte geantwortet, er
habe ihn noch nie gemocht. Er war eben
Weitere Kostenlose Bücher