von Schirach, Ferdinand
Gegenstände
zurück, ich quittierte für ihn. Wir gingen zu meinem Wagen. Ich fuhr ihn zum
Bahnhof, dorthin, wo er vor 35 Stunden zwei Männer getötet hatte. Wortlos stieg er
aus und verschwand in der Menschenmenge. Ich habe ihn nie wieder gesehen.
Eine Woche später war ich mit
dem Chef der Wirtschaftskanzlei zum Mittagessen verabredet. »Wer ist denn nun
euer Key-Client, der wollte, dass man sich um den Unbekannten kümmert?«, fragte
ich.
»Das darf ich dir nicht sagen,
du würdest ihn kennen. Wer der Unbekannte ist, weiß ich selbst nicht. Aber ich
habe etwas für dich«, sagte er und zog eine Tüte hervor. Es war das Hemd, das
ich dem Mann gegeben hatte. Es war gereinigt und gebügelt.
Auf dem Weg zum Parkplatz warf
ich es in den Müll.
Grün
Sie hatten wieder ein Schaf
gebracht. Die vier Männer standen in Gummistiefeln um das Tier und starrten es
an. Sie hatten es auf der Ladefläche eines Pick-ups in den Innenhof des
Herrenhauses gefahren, und nun lag es dort im Nieselregen auf einer blauen
Plastikfolie. Die Kehle des Schafs war durchschnitten, das schlammverdreckte
Fell übersät von Stichwunden. Das verkrustete Blut verflüssigte sich im Regen
allmählich wieder, es lief in dünnen roten Fäden über die Folie und
versickerte zwischen den Pflastersteinen.
Für keinen der Männer war der
Tod etwas Fremdes, sie waren Viehbauern, und jeder von ihnen hatte schon selbst
geschlachtet. Aber vor diesem Kadaver grausten sie sich: Es war ein Bleu-du-Maine-Schaf,
eine fruchtbare Rasse mit bläulichem Kopf und vorstehenden Augen. Die Augäpfel
des Tieres waren herausgerissen, und auf dem Rand der dunklen Augenhöhlen
lagen faserig die Reste der Sehnerven und Muskelstränge.
Graf Nordeck begrüßte die
Männer mit einem Nicken, keinem war zum Reden zumute. Er warf einen kurzen
Blick auf das Tier und schüttelte den Kopf. Aus der Jackentasche zog er seine
Brieftasche hervor, zählte 400 Euro ab und gab das Geld einem der Männer. Es war mehr
als das Doppelte des Wertes des Schafes. Einer der Bauern sagte: »Das geht
nicht mehr« und sprach damit aus, was alle dachten. Als die Männer vom Hof
fuhren, schlug Nordeck den Kragen seines Mantels hoch. >Die Bauern haben
recht<, dachte er, >ich muss mit ihm sprechen.<
Angelika Petersson war eine
zufriedene, dicke Frau. Seit 22 Jahren war sie Polizistin in
Nordeck, noch nie hatte es in ihrer Gemeinde ein Kapitalverbrechen gegeben, und
noch nie hatte sie im Einsatz ihre Waffe ziehen müssen. Für heute war die
Arbeit erledigt, der Bericht über den betrunkenen Fahrer war fertig. Sie wippte
mit ihren Stuhl hin und her und freute sich trotz des Regens auf das
Wochenende. Sie würde endlich dazu kommen, die Fotos vom letzten Urlaub einzukleben.
Als es schellte, stöhnte Petersson.
Sie drückte den Summer, und weil niemand durch die Tür kam, erhob sie sich
ächzend und schimpfend und ging auf die Straße. Sie wollte den Dorfjungs, die
diese dämlichen Klingelstreiche immer noch lustig fanden, die Ohren lang
ziehen.
Petersson hätte Philipp von
Nordeck beinahe nicht erkannt. Er stand vor der Wache auf dem Bürgersteig. Es
goss in Strömen. Die Haare hingen nass und dick in sein Gesicht, die Jacke
triefte vor Schlamm und Blut. Das Küchenmesser hielt er so fest umklammert,
dass die Knöchel seiner Faust weiß hervortraten, Wasser lief über die Klinge.
Philipp war 19 Jahre alt, Petersson kannte
ihn, seit er ein Kind war. Sie ging langsam auf ihn zu und sprach dabei beruhigend
und leise, wie sie früher mit den Pferden auf dem Hof ihres Vater gesprochen
hatte. Sie nahm ihm das Messer aus der Hand und strich ihm über den Kopf, er
ließ es geschehen. Dann legte sie ihm den Arm um die Schultern und führte ihn
über die beiden Steinstufen in das niedrige Haus. Sie brachte ihn zur Toilette.
»Jetzt wasch dich erst mal, du
siehst furchtbar aus«, sagte sie. Sie war keine Kriminalistin, und Philipp tat
ihr einfach leid.
Er ließ lange das heiße Wasser
über seine Hände laufen, sie färbten sich rot, der Spiegel beschlug. Dann
beugte er sich vor und wusch sein Gesicht, Blut und Dreck flossen in das
Waschbecken und verstopften den Abfluss. Er starrte in den Spülstein und
flüsterte: »Achtzehn.« Petersson verstand ihn nicht. Sie brachte ihn in die
kleine Wachstube zu ihrem Schreibtisch. Es roch nach Tee und Bohnerwachs.
»Jetzt erzähl bitte, was
passiert ist«, sagte Petersson und setzte ihn auf den Besucherstuhl. Philipp
legte seine Stirn auf die
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