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von Schirach, Ferdinand

von Schirach, Ferdinand

Titel: von Schirach, Ferdinand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verbrechen
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Gerike wunderte sich
über den Anruf. Nein, Sabine sei nicht zu Hause. Sie sei direkt im Anschluss an
die Geburtstagsfeier zu einer Freundin nach München gefahren. Nein, sie habe
sich noch nicht gemeldet, das sei aber nicht ungewöhnlich.
    Gerike versuchte Nordeck zu
beruhigen: »Es ist sicher alles in Ordnung, Philipp hat sie zum Nachtzug
gebracht.«
    Die Polizei befragte zwei
Bahnhofsmitarbeiter, sie stellte Nordecks Haus auf den Kopf, und sie vernahm
alle Geburtstagsgäste - es gab keinen Hinweis auf den Verbleib Sabines.
    Der Gerichtsmediziner
untersuchte die Augen in der Zigarrenkiste, es waren Schafsaugen. Auch das
Blut auf Philipps Kleidung stammte von einem Tier.
     
    Ein paar Stunden nach Philipps
Festnahme fand ein Bauer noch ein Schaf hinter seinem Hof. Er lud es sich auf
die Schultern und trug es im Regen durch die Dorfstraße bis zur Polizeistation.
Das Fell des Tieres hatte sich vollgesogen, es war schwer, Blut und Wasser
liefen über die Wachsjacke des Bauern. Er warf es auf die Stufen des
Polizeireviers, das nasse Fell klatschte gegen die Tür und hinterließ auf dem
Holz eine dunkle Spur.
     
    Auf halbem Weg zwischen
Herrenhaus und Dorf, das aus etwa zweihundert niedrigen Häusern bestand,
zweigte ein schmaler Feldweg ab und führte zu dem verlassenen reetgedeckten Friesenhaus
auf dem Deich, das nur >Dikhüs< genannt wurde. Tagsüber war es
Mittelpunkt von Kinderspielen, nachts trafen sich Liebespaare unter der
Pergola. Man konnte von hier aus das Meer und die Schreie der Möwen hören.
    Die Kriminalbeamten fanden im
nassen Hafergras das Handy Sabines. Nicht weit davon lag ein Haarreif. Sabine
habe ihn am Geburtstagsabend getragen, sagte ihr Vater. Das Gebiet wurde
abgesperrt, und eine Hundertschaft Polizisten durchkämmte das Marschland. Sie
hatten Leichenhunde mitgebracht. Beamte der Spurensicherung wurden angefordert
und suchten in weißen Tyvekanzügen nach weiteren Beweismitteln. Aber sie fanden
nichts mehr.
     
    Mit den vielen Polizisten kam
auch die Presse nach Nordeck, und jeder, der sich auf der Straße zeigte, wurde
interviewt. Kaum einer ging mehr aus dem Haus, die Vorhänge wurden zugezogen,
und selbst der Dorfkrug blieb leer. Nur die Journalisten mit den bunten
Umhängetaschen saßen in der Kneipe. Sie hatten ihre Laptops aufgeklappt,
fluchten über langsame Internetverbindungen und erzählten sich Nachrichten,
die es nicht gab.
     
    Seit Tagen regnete es
ununterbrochen, nachts drückte der Nebel auf die niedrigen Dächer, und selbst
das Vieh schien mürrisch zu werden. Die Bewohner des Dorfs besprachen die Sache
und grüßten Nordeck nicht mehr, wenn sie ihn sahen.
     
    Am fünften Tag nach Philipps
Festnahme verfügte der Pressesprecher der Staatsanwaltschaft die
Veröffentlichung eines Fotos von Sabine und einen Suchaufruf in den Zeitungen.
Einen Tag später hatte jemand mit roter Farbe an das Tor des Herrenhauses
»Mörder« geschmiert.
     
    Philipp war im Gefängnis. Die
ersten drei Tage redete er kaum, und wenn er etwas von sich gab, war es
unverständlich. Am vierten Tag kam er zu sich. Die Polizisten vernahmen ihn,
er war offen und beantwortete ihre Fragen. Nur wenn sie über die Schafe
sprechen wollten, senkte er den Kopf und schwieg. Die Beamten interessierten
sich natürlich mehr für Sabine, aber Philipp erklärte immer wieder, er habe
sie zum Bahnhof gebracht. Zuvor sei man zum Dikhüs gegangen und habe
miteinander gesprochen. »Wie Freunde«, sagte er. Vielleicht habe sie dabei
Haarreif und Telefon verloren. Er habe ihr nichts getan. Mehr war aus ihm nicht
herauszubringen. Mit dem Psychiater wollte er nicht sprechen.
     
     
    Staatsanwalt Krauther leitete
die Ermittlungen. Er schlief in diesen Tagen so schlecht, dass seine Frau ihm
beim Frühstück sagte, er knirsche nachts mit den Zähnen. Sein Problem war,
dass eigentlich bisher nichts passiert war. Philipp von Nordeck hatte einige
Schafe getötet, aber das war nur eine Sachbeschädigung und ein Verstoß gegen
das Tierschutzgesetz. Finanzieller Schaden war nicht entstanden, die Schafe
waren von seinem Vater bezahlt worden, und keiner der Bauern hatte Strafanzeige
gestellt. Sabine war zwar nicht bei ihrer Freundin in München angekommen. »Aber
sie ist ein junges Mädchen, und dass sie sich nicht meldet, kann tausend
harmlose Gründe haben«, sagte Krauther zu seiner Frau. Dass Philipp das Mädchen
umgebracht hatte, ließ sich kaum mit der Zigarrenkiste begründen, auch wenn der
Ermittlungsrichter bisher seinem Haftantrag

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