von Schirach, Ferdinand
auf Treppen, auf Stühlen, Sofas und
Fensterbänken, sie saßen in Schwimmbädern, Schuhgeschäften, auf Wiesen und an
Seeufern. Und sie alle zogen sich einen gelben Reißnagel aus dem Fuß.
Die Direktion des Museums
erstattete Strafanzeige gegen Feldmayer wegen Sachbeschädigung und wollte ihn
auf Schadensersatz verklagen. Die Staatsanwaltschaft ermittelte wegen Hunderten
Fällen von gefährlicher Körperverletzung. Der zuständige Dezernent der
Staatsanwaltschaft entschied, Feldmayer von einem psychiatrischen
Sachverständigen untersuchen zu lassen. Es wurde ein merkwürdiges Gutachten.
Der Psychiater konnte sich nicht entscheiden: Einerseits, so meinte er, habe Feldmayer
unter einer Psychose gelitten, andererseits könne es sein, dass er sich durch
das Zerstören der Statue selbst geheilt habe. Vielleicht sei Feldmayer gefährlich,
und aus den Reißnägeln könnten eines Tages Messer werden. Vielleicht aber auch
nicht.
Schließlich erhob die
Staatsanwaltschaft Anklage vor dem Schöffengericht. Das bedeutete, dass der
Staatsanwalt von einer Strafhöhe zwischen zwei und vier Jahren ausging.
Wird Anklage erhoben, muss das
Gericht entscheiden, ob sie zur Verhandlung zugelassen wird. Der Richter
eröffnet das Verfahren, wenn er eine Verurteilung für wahrscheinlicher als
einen Freispruch hält. So steht es zumindest in den Lehrbüchern. In der
Wirklichkeit spielen oft ganz andere Fragen eine Rolle. Kein Richter lässt
seine Entscheidung gerne von einem höheren Gericht aufheben, und deshalb werden
viele Verfahren eröffnet, obwohl der Richter eigentlich meint, dass er den
Angeklagten freisprechen wird. Will der Richter nicht eröffnen, sucht er
manchmal das Gespräch mit der Staatsanwaltschaft, um sicherzustellen, dass sie
nicht in Beschwerde geht.
Der Richter, der Staatsanwalt
und ich saßen im Richterzimmer und diskutierten den Fall. Die Beweise der
Staatsanwaltschaft schienen mir dürftig: Es gab nicht mehr als die Fotos,
Zeugen konnte die Anklage nicht benennen, und es war unklar, wie alt die Bilder
waren - vielleicht waren die Taten längst verjährt, wer wusste das schon. Das
Gutachten des Sachverständigen gab nicht viel her, und ein Geständnis hatte Feldmayer
nicht abgelegt. Es blieb die Sachbeschädigung an der Plastik. Mir schien es
klar, dass die Hauptschuld die Museumsdirektion traf. Sie hatte Feldmayer 23 Jahre lang in einen Raum
gesperrt und vergessen.
Der Richter stimmte mir zu. Er
war ungehalten. Er sagte, er würde lieber die Museumsdirektion auf der
Anklagebank sehen, immerhin sei es die städtische Verwaltung, die einen
Menschen zugrunde gerichtet habe. Der Richter wollte, dass das Verfahren wegen
geringer Schuld eingestellt würde. Er wurde sehr deutlich. Eine solche
Einstellung erfordert aber die Zustimmung der Strafverfolgungsbehörde, und
unser Staatsanwalt war dazu nicht bereit.
Ein paar Tage später erhielt
ich doch noch den Einstellungsbescheid. Als ich den Richter anrief, sagte er
mir, der Vorgesetzte unseres Staatsanwalts habe überraschend zugestimmt. Der
Grund wurde natürlich nie offiziell mitgeteilt, aber er lag auf der Hand: Wäre
das Verfahren weitergeführt worden, hätte sich die Museumsdirektion in einem
öffentlichen Prozess nicht wirklich angenehmen Fragen stellen müssen. Und ein
ungehaltener Richter hätte der Verteidigung sehr freie Hand gegeben. Feldmayer
wäre mit einer winzigen Strafe davongekommen, aber Stadt und Museum wären vorgeführt
worden.
Auch die Museumsleitung sah
schließlich von einer zivilrechtlichen Klage ab. Bei unserem Mittagessen sagte
der Direktor, er sei froh, dass Feldmayer nicht den »Saal der Salome« bewacht
habe.
Feldmayer behielt seine
Rentenansprüche, das Museum gab eine kaum beachtete Erklärung heraus, dass eine
Büste durch einen Unfall beschädigt worden sei; Feldmayers Name wurde nicht
erwähnt, und er hat nie wieder einen Reißnagel in die Hand genommen.
Man hatte die Scherben der
Büste in einem Pappkarton eingesammelt und sie in die Museumswerkstätten
gebracht. Eine Restauratorin bekam die Aufgabe, sie wiederherzustellen. Sie
breitete die Stücke auf einem Tisch aus, der mit schwarzem Tuch bezogen war.
Sie fotografierte jeden Splitter und registrierte über zweihundert Einzelteile
in einer Kladde.
Es war still in der Werkstatt,
als sie mit der Arbeit begann. Sie hatte ein Fenster geöffnet, die Wärme des
Frühlings breitete sich in der Werkstatt aus, und sie betrachtete die Scherben,
während sie eine Zigarette
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