von Schirach, Ferdinand
ich mich zu ihm. Die Zeitschaltuhr
für das Licht klickte, wir saßen im Dunkeln und rauchten.
»Patrik, was kann ich für Sie
tun?«, fragte ich nach einiger Zeit.
»Es ist schwierig«, sagte er.
»Es ist immer schwierig«,
sagte ich und wartete.
»Ich habe es noch niemandem
erzählt.«
»Lassen Sie sich Zeit, es ist
ja ganz gemütlich hier.« Es war kühl und unbequem.
»Ich liebe Nicole, wie ich
noch nie jemanden geliebt habe. Sie meldet sich nicht mehr, ich habe alles
probiert. Ich habe ihr auch einen Brief geschrieben, aber sie hat nicht geantwortet.
Ihr Handy ist abgestellt. Ihre beste Freundin hat aufgelegt, als ich angerufen
habe.«
»So etwas kommt vor.«
»Was soll ich machen?«
»Die Strafsache ist kein
unlösbares Problem, Sie kommen nicht ins Gefängnis. Ich habe Ihre Akte gelesen
...«
»Ja?«
»Offen gesagt: Ihre Geschichte
stimmt nicht. Es war kein Unfall.«
Patrik zögerte. Er zündete
sich eine neue Zigarette an. »Ja, das stimmt«, sagte er, »es war wirklich kein
Unfall. Ich weiß nicht, ob ich Ihnen sagen kann, was es wirklich war.«
»Anwälte stehen unter
Schweigepflicht«, sagte ich. »Alles, was Sie mir sagen, bleibt unter uns. Nur
Sie bestimmen, ob und mit wem ich darüber sprechen darf. Auch Ihre Eltern
erfahren nichts von diesem Gespräch.«
»Gilt das auch gegenüber der
Polizei?«
»Vor allem gegenüber der
Polizei und allen anderen Strafverfolgungsbehörden. Ich muss schweigen, sonst
würde ich mich selbst strafbar machen.«
»Ich kann es trotzdem nicht
erzählen«, sagte er.
Plötzlich hatte ich eine Idee:
»In der Kanzlei gibt es einen Anwalt, der eine fünfjährige Tochter hat. Neulich
erzählte sie einem anderen Kind irgendetwas. Die beiden hockten auf dem Boden.
Sie ist ein sehr aktives Kind, und sie redete und redete und rutschte immer
näher an ihre Freundin. Sie war so aufgeregt von ihrer eigenen Geschichte, dass
sie bald fast auf dem anderen Mädchen saß. Sie plapperte immer weiter, und
schließlich hielt sie es nicht mehr aus: Sie umarmte ihre Freundin und biss
sie vor Glück und Begeisterung in den Hals.«
Ich spürte, wie es in Patrik
arbeitete. Er rang mit sich. Schließlich sagte er: »Ich wollte sie essen.«
»Ihre Freundin?«
»Ja.«
»Weshalb wollten Sie das tun?«
»Sie kennen sie nicht, sie
hätten einmal ihren Rücken sehen müssen. Ihre Schulterblätter laufen spitz zu,
ihre Haut ist fest und weiß. Meine Haut ist voller Poren, fast wie Löcher, aber
ihre ist dicht und glatt. Es sind winzige blonde Härchen darauf.«
Ich versuchte mir das Bild
ihres Rückens aus der Akte in Erinnerung zu rufen. »Wollten Sie das zum ersten
Mal?«, fragte ich.
»Ja. Nur einmal vorher, da war
es aber nicht so stark. Es war in unseren Ferien in Thailand, als wir am Strand
lagen. Ich habe sie damals ein wenig zu fest gebissen.«
»Wie wollten Sie es diesmal
machen?«
»Ich weiß nicht. Ich glaube,
ich wollte einfach nur ein Stückchen herausschneiden.«
»Wollten Sie schon einmal
jemand anderen essen?«
»Nein, natürlich nicht. Es
geht um sie, nur um sie.« Er zog an seiner Zigarette. »Bin ich verrückt? Ich
bin doch nicht so ein Hannibal Lecter. Oder?« Er hatte Angst vor sich selbst.
»Nein, das sind Sie nicht. Ich
bin kein Arzt, aber ich glaube, dass Sie sich zu sehr in Ihre Liebe zu ihr hineingesteigert
haben. Sie wissen das selbst, Patrik, Sie sagen es ja sogar selbst. Ich denke,
dass Sie sehr krank sind. Sie müssen sich helfen lassen. Und Sie müssen das
schnell tun.«
Es gibt verschiedene Arten des
Kannibalismus. Menschen essen Menschen aus Hunger, aus rituellen Gründen oder
eben wegen schwerer Persönlichkeitsstörungen, die oft eine sexuelle Prägung
haben. Patrik glaubte, dass Hollywood Hannibal Lecter erfand, aber es gibt
ihn seit Menschengedenken. In der Steiermark aß Paul Reisiger im 18. Jahrhundert sechs »zuckende
Herzen von Jungfrauen« - er glaubte, wenn er neun davon verspeise, könnte er
unsichtbar werden. Peter Kürten trank das Blut seiner Opfer Joachim Kroll aß in
den Siebzigerjahren mindestens acht Menschen, die er getötet hatte, und
Bernhard Oehme verspeiste 1948 seine eigene Schwester.
Es finden sich in der
Rechtsgeschichte zahlreiche Beispiele, die unvorstellbar sind. Als Karl Denke 1924 festgenommen wurde, fand man
in seiner Küche alle möglichen Reste von Menschen: in Essig eingelegte
Fleischbrocken, einen Kübel voll Knochen, Töpfe mit ausgelassenem Fett und
einen Sack mit Hunderten Menschenzähnen. Er trug
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