von Schirach, Ferdinand
hatte, maß auch diese aus und
zählte sie hinzu. Die Wände und Decken waren schwieriger, aber Feldmayer hatte
genügend Zeit.
Er führte ein Schulheft, in
das er jede Berechnung eintrug. Er vermaß die Türen und deren Kassetten, die
Aussparungen für die Schlösser, die Länge der Klinke, die Fußbodenleisten,
die Heizkörperverkleidungen, die Fenstergriffe, den Abstand der Doppelscheiben,
den Umfang des Luftfeuchtigkeitsmessgeräts und die Lichtschalter. Er wusste,
wie viel Kubikmeter Luft in dem Raum war, wie weit und bis zu welcher Platte
die Sonnenstrahlen an welchem Tag des Jahres in den Saal fielen, er kannte die
durchschnittliche Luftfeuchtigkeit und deren Abweichungen morgens, mittags und
abends. Er verzeichnete, dass die zwölfte Fuge, vom Eingang aus gezählt, einen
halben Millimeter schmaler war. Der zweite Fenstergriff links hatte auf der
Unterseite einen blauen Farbspritzer, den er nicht erklären konnte, denn es gab
nichts Blaues in der Halle. Die Heizkörperverkleidung war an einer Stelle nicht
ganz vollständig lackiert worden, und es gab drei stecknadelgroße Löcher in den
Ziegeln der hinteren Wand.
Feldmayer zählte die Besucher.
Wie lange waren sie in seinem Saal, von welcher Seite aus sahen sie die Statue
an, wie oft blickten sie aus dem Fenster, wer nickte ihm zu. Er stellte
Statistiken über männliche und weibliche Besucher auf, über Kinder, Klassen und
Lehrer, über die Farbe der Jacken, Hemden, Mäntel, Pullover, Hosen, Röcke und
Strümpfe der Besucher. Er zählte, wie oft jemand in seiner Halle atmete, hielt
fest, welche Marmorplatte wie oft betreten wurde, wie viele und welche Worte
gesprochen wurden. Es gab eine Statistik zur Haar-, Augen- und Hautfarbe, eine
weitere für Schals, Handtaschen und Gürtel und eine andere für Glatzen, Barte
und Eheringe. Er zählte die Fliegen und versuchte, das System ihrer
Flugbewegungen und Landeplätze zu erfassen.
Das Museum veränderte Feldmayer.
Es hatte damit begonnen, dass er abends den Ton seines Fernsehers nicht mehr
ertrug. Er ließ ihn noch ein halbes Jahr stumm laufen, dann schaltete er ihn
gar nicht mehr ein, und schließlich schenkte er ihn dem Studentenpärchen, das
auf dem Flur gegenüber eingezogen war. Das Nächste waren die Bilder. Er hatte
ein paar Kunstdrucke, >Äpfel und Tuch<, >Sonnenblumen< und >Der Watzmann<.
Irgendwann irritierten ihn die Farben, er hängte die Bilder ab und brachte sie
zum Müll. Nach und nach leerte er seine Wohnung: Illustrierte, Vasen, Aschenbecher
mit Verzierungen, Untersetzer, eine lila Überwurfdecke und zwei Teller mit
Motiven aus Toledo. Feldmayer warf alles weg. Er nahm die Tapeten ab, spachtelte
die Wände glatt und kalkte sie weiß, er entfernte den Teppich und schliff die
Dielen ab.
Nach ein paar Jahren folgte Feldmayers
Leben einem immer gleichen Rhythmus. Er stand jeden Morgen um sechs Uhr auf.
Dann ging er, ohne sich um das Wetter zu kümmern, fünftausendvierhundert
Schritte auf einem Rundweg durch den Stadtgarten. Er ging gemächlich und
wusste, wann die Ampel vor dem Straßenübergang auf Grün springen würde. Wenn er
es einmal nicht schaffte, den Rhythmus zu halten, war ihm den Rest des Tages
unwohl.
Jeden Abend zog er sich eine
alte Hose an und polierte auf den Knien den Dielenboden in der Wohnung - eine
anstrengende Arbeit, die fast eine Stunde dauerte und ihn befriedigte. Er
machte sorgfältig die Hausarbeit und hatte einen ruhigen, tiefen Schlaf.
Sonntags kehrte er in der immer gleichen Gastwirtschaft ein, bestellte ein
Hühnchen und trank dazu zwei Bier. Meist unterhielt er sich noch mit dem Wirt,
mit dem er schon auf die Schule gegangen war.
Vor dem Museum hatte Feldmayer
regelmäßig Freundinnen gehabt, dann interessierten sie ihn immer weniger. Sie
waren ihm einfach »zu viel«, wie er dem Wirt sagte. »Sie sind laut und stellen
Fragen, auf die ich keine Antworten weiß, und von der Arbeit kann ich auch
nichts erzählen.«
Feldmayers einziges Hobby war
die Fotografie, er besaß eine schöne Leica, die er preiswert gebraucht gekauft
hatte, er hatte in einem seiner Berufe gelernt, Fotos selbst zu entwickeln. In
der Abstellkammer seiner Wohnung hatte er sich eine Dunkelkammer eingerichtet,
aber nach den Jahren im Museum waren ihm die Motive ausgegangen.
Mit seiner Mutter telefonierte
er regelmäßig und besuchte sie alle drei Wochen. Nach ihrem Tod hatte er keine
Verwandten mehr. Feldmayer kündigte seinen Telefonanschluss.
Sein Leben floss ruhig dahin,
er
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