von Schirach, Ferdinand
mied jede Aufregung. Er war weder glücklich noch unglücklich - Feldmayer war
mit seinem Leben zufrieden.
Bis er sich mit der Plastik beschäftigte.
Es war ein >Dornauszieher<,
ein Motiv der Antike. Ein nackter Knabe sitzt auf einem Felsblock, er beugt
seinen Rücken nach vorne, das linke Bein hat er angewinkelt und über den
rechten Oberschenkel gelegt. Mit der linken Hand hält er den Rist des linken
Fußes, mit der rechten Hand zieht er einen Dorn aus seiner Fußsohle. Die
Marmorfigur in Feldmayers Halle war eine römische Stilisierung des
griechischen Originals. Sie war nicht besonders wertvoll, es gibt unzählige
Kopien.
Feldmayer hatte die Figur
längst vermessen, er hatte über sie alles gelesen, was er finden konnte, und er
hätte sogar den Schatten, den die Figur auf den Boden warf, aus dem Kopf
zeichnen können. Aber irgendwann zwischen dem siebten und achten Jahr im
Museum, ganz genau wusste er das nicht mehr, begann alles. Feldmayer saß auf
seinem Stuhl und sah die Büste an, ohne sie wirklich zu sehen. Plötzlich fragte
er sich, ob der Knabe den Dorn in seinem Fuß gefunden habe. Er wusste nicht,
woher die Frage kam, sie war einfach da, und sie verschwand nicht mehr.
Er ging zu der Figur und
untersuchte sie. Er konnte den Dorn im Fuß nicht finden. Feldmayer wurde
nervös, ein Gefühl, das er seit Jahren nicht mehr kannte. Je länger er hinsah,
desto unklarer schien es ihm, ob der nackte Knabe den Dorn überhaupt zu fassen
bekommen hatte. In dieser Nacht schlief Feldmayer schlecht. Am nächsten Morgen
ließ er den Rundgang durch den Stadtgarten ausfallen und verschüttete seinen
Kaffee. Er kam zu früh zum Museum und musste eine halbe Stunde bis zur Öffnung
des Personaleingangs warten.
In seiner Tasche hatte er eine
Lupe. Er rannte fast in seinen Saal, mit der Lupe untersuchte er die Büste
Millimeter für Millimeter. Er fand keinen Dorn, weder zwischen Daumen und
Zeigefinger des Knaben noch in seinem Fuß. Feldmayer überlegte, ob der Knabe
den Dorn vielleicht schon fallen gelassen hatte. Er rutschte auf den Knien um
die Statue und suchte den Boden ab. Dann wurde ihm schlecht, und er übergab
sich auf der Toilette.
Feldmayer wünschte sich, er
hätte die Sache mit dem Dorn nie entdeckt.
In den folgenden Wochen ging
es mit ihm bergab. Er saß jeden Tag mit dem Knaben in der Halle und grübelte.
Er stellte sich vor, wie der Junge gespielt hatte, vielleicht Verstecken oder
Fußball. >Nein<, dachte Feldmayer dann, der darüber gelesen hatte,
>es war sicher ein Wettrennen. So was haben die in Griechenland dauernd
gemacht.< Und dann war der Knabe in einen winzigen Stachel getreten. Es
hatte geschmerzt, er hatte nicht mehr auftreten können. Die anderen waren vorausgelaufen,
aber er hatte sich auf den Stein setzen müssen. Und dieser verdammte
unsichtbare Dorn steckte nun seit Jahrhunderten in dem Fuß und ließ sich nicht
herausziehen. Feldmayer wurde immer unruhiger. Nach ein paar Monaten hatte er
schon beim Aufwachen Beklemmungen. Er drückte sich morgens lange im
Aufenthaltsraum herum, und ausgerechnet er, den die Kollegen hinter seinem
Rücken den >Mönch< nannten, schwätzte in der Kantine mit jedem und tat
alles, um möglichst spät in seine Halle zu kommen. Wenn er dann bei dem Knaben
war, konnte er ihn nicht ansehen.
Es wurde schlimmer. Feldmayer
hatte Schweißausbrüche, bekam Herzrasen und kaute seine Fingernägel ab. Er
konnte kaum noch schlafen, wenn er einnickte, hatte er Albträume und wachte
klatschnass auf. Sein äußeres Leben war nur noch Hülle. Bald glaubte er, der
Dorn sei in seinem Kopf, dort wachse er immer weiter. Der Dorn kratzte an der Innenwand
seines Schädels, Feldmayer konnte das Geräusch hören. Alles, was bis dahin in seinem
Leben leer, ruhig und geordnet war, verwandelte sich in ein Chaos aus spitzen
Stacheln. Und es gab keine Befreiung. Er konnte nichts mehr riechen, und er
hatte Schwierigkeiten zu atmen. Manchmal bekam er so wenig Luft, dass er, was
streng verboten war, eines der Fenster im Saal aufriss. Er aß nur noch winzige
Portionen, weil er meinte, er müsse daran ersticken. Er war überzeugt, dass
der Fuß des Jungen sich entzündet hatte, und wenn er kurz hinsah, war er sich
sicher, dass der Knabe jeden Tag ein Stück größer wurde. Er musste ihn
befreien, ihn von dem Schmerz erlösen. Und so kam Feldmayer die Idee mit den
Reißnägeln.
In einem Geschäft für
Bürobedarf erstand er eine Kiste Reißnägel mit gut sichtbaren
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