von Schirach, Ferdinand
Köpfchen in
einem grellen Gelb. Er kaufte die kleinsten, die er finden konnte, es sollte
nicht zu sehr schmerzen. Drei Straßen weiter befand sich ein Schuhgeschäft. Feldmayer
musste nicht lange warten: Ein dürrer Mann probierte den Schuh, schrie vor
Schmerz, hüpfte auf einem Bein zur Bank und zog sich fluchend einen gelben
Reißnagel aus dem Fußballen. Er hielt ihn zwischen Daumen und Zeigefinger gegen
das Licht und zeigte ihn den anderen Kunden.
Feldmayers Gehirn setzte beim
Anblick der herausgezogenen Reißzwecke so viele Endorphine frei, dass es ihn
fast umriss. Das reine Glück überschwemmte ihn für Stunden, alle Beklemmung und
Ohnmacht verschwanden mit einem Schlag, er wollte den verletzten Mann und die
ganze Welt umarmen. Nach dem Rausch schlief er seit Monaten wieder eine ganze
Nacht durch und hatte dabei einen immer wiederkehrenden Traum: Der Knabe zog
den Dorn heraus, stand auf, lachte und winkte ihm zu.
Nur zehn Tage vergingen, bis
ihm der Dornauszieher erneut vorwurfsvoll seinen verletzten Fuß entgegenhielt. Feldmayer
stöhnte, aber er wusste, was er zu tun hatte, das Kistchen Reißnägel hatte er
noch in der Tasche.
Seit 23 Jahren stand er jetzt im
Dienst des Museums, und nun würde in ein paar Minuten seine Zeit enden. Feldmayer
stand auf und schüttelte seine Beine aus, sie waren in letzter Zeit öfter taub
vom langen Sitzen. Es blieben nur noch zwei Minuten, dann wäre alles zu Ende.
Er stellte den Stuhl unter das mittlere Fenster, wie er ihn damals an seinem
ersten Tag vorgefunden hatte, rückte ihn zurecht und wischte ihn mit seinem
Jackenärmel ab. Dann ging er ein letztes Mal zur Büste.
Er hatte den Dornauszieher in
den vergangenen 23 Jahren
nie berührt. Und nichts von dem, was jetzt geschah, hatte Feldmayer geplant.
Er sah sich selbst, wie er die Büste mit beiden Händen umgriff, er spürte den
glatten, kühlen Marmor, als er sie vom Sockel nahm. Sie war schwerer, als er
erwartet hatte. Er hielt sie vor sein Gesicht, sie war jetzt ganz nah, und dann
hob er sie weit und immer weiter über seinen Kopf, er stand auf den
Zehenspitzen und streckte sie, so hoch er konnte. In dieser Haltung hielt er es
fast eine Minute lang aus, dann begann er zu zittern. Er atmete, so tief er
konnte, ein, schleuderte die Büste mit aller Wucht zu Boden und schrie. Feldmayer
schrie so laut, wie er noch nie in seinem Leben geschrien hatte. Sein Schrei
hallte durch die Säle, er wurde von Wand zu Wand weitergetragen, und er war so
fürchterlich, dass die Bedienung im Museumscafe neun Räume weiter ein volles
Tablett fallen ließ. Die Plastik zerbrach mit einem dunklen Knall auf dem
Boden, eine Marmorplatte riss.
Und dann geschah etwas
Seltsames. Feldmayer schien es, als würde das Blut in seinen Adern die Farbe
wechseln, es wurde hellrot, er spürte, wie es sich vom Magen aus pulsierend
durch seinen ganzen Körper bis in die Finger- und Zehenspitzen ausbreitete, es
erleuchtete ihn von innen. Die zersprungene Platte, die Vertiefungen in den
Ziegelwänden und die Staubkörner wurden plastisch, alles wölbte sich ihm
entgegen, die umherfliegenden Marmorsplitter schienen in der Luft zu stehen.
Dann sah er den Dorn, er leuchtete in eigenartigem Glanz, er sah ihn von allen
Seiten gleichzeitig, bis er sich auflöste und verschwand.
Feldmayer sank auf die Knie.
Er hob langsam den Kopf und sah aus dem Fenster. Der Kastanienbaum stand in dem
sanften Grün, wie es nur die ersten Frühlingstage hervorbringen, die
Nachmittagssonne warf bewegte Schatten auf den Boden des Saals. Es gab keine
Schmerzen mehr. Feldmayer spürte die Wärme auf seinem Gesicht, seine Nase
juckte, und dann begann er zu lachen. Er lachte und lachte, er hielt sich den
Bauch vor Lachen, und er konnte nicht mehr damit aufhören.
Die beiden Schutzpolizisten,
die Feldmayer nach Hause brachten, wunderten sich über die Kargheit seiner Wohnung.
Sie setzten ihn auf einen der beiden Stühle in der Küche und wollten abwarten,
bis er sich beruhigt hatte und vielleicht etwas erklären würde.
Einer der Polizisten suchte
das Badezimmer. Er öffnete versehentlich die Schlafzimmertür, trat in den
dunklen Raum und tastete nach dem Lichtschalter. Und dann sah er es: Die Wände
und Decken waren mit Tausenden Fotos tapeziert, sie klebten übereinander, kein
Millimeter war noch frei. Selbst auf dem Boden und dem Nachttisch lagen die
Bilder. Sie alle zeigten das immer gleiche Motiv, nur die Orte wechselten:
Männer, Frauen und Kinder saßen
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