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von Schirach, Ferdinand

von Schirach, Ferdinand

Titel: von Schirach, Ferdinand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verbrechen
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rauchte. Sie war glücklich, nach ihrem Studium hier
arbeiten zu können, der Dornauszieher war ihre erste große Aufgabe. Sie
wusste, dass das Zusammenfügen lange dauern konnte, Jahre vielleicht.
     
    Gegenüber dem Tisch stand ein
kleiner hölzerner Buddhakopf aus Kyoto. Er war uralt und hatte einen Riss in
der Stirn. Der Buddha lächelte.
     
    Liebe
     
    Sie war eingedöst, ihr Kopf
lag auf seinem Oberschenkel. Es war ein warmer Sommernachmittag, die Fenster
standen offen, sie fühlte sich wohl. Sie kannten sich jetzt seit zwei Jahren,
beide studierten Betriebswirtschaft in Bonn, sie besuchten die gleichen
Vorlesungen. Sie wusste, dass er sie liebte.
    Patrik streichelte ihren
Rücken. Das Buch langweilte ihn, er mochte Hesse nicht, und er las die Gedichte
nur vor, weil sie es so wollte. Er betrachtete ihre nackte Haut, ihre Wirbelsäule
und Schulterblätter, er zeichnete sie mit seinen Fingern nach. Auf dem
Nachttisch lag das Schweizermesser, er hatte damit den Apfel zerteilt, den sie
gegessen hatten. Er legte das Buch zur Seite und nahm das Messer. Mit halb
geschlossenen Augen sah sie, wie er eine Erektion bekam. Sie musste lächeln,
sie hatten eben erst miteinander geschlafen. Er klappte die Klinge aus. Sie hob
ihren Kopf in Richtung seines Penis. Dann spürte sie den Schnitt in ihrem
Rücken. Sie schrie, schlug seine Hand zur Seite und sprang auf. Das Messer flog
auf den Parkettboden, sie fühlte, wie ihr das Blut den Rücken herunterlief. Er
sah sie verwirrt an, sie ohrfeigte ihn, griff ihre Kleidung vom Stuhl und
rannte ins Bad. Seine Studentenwohnung lag im Parterre eines Altbaus. Sie zog
hastig ihre Sachen über, kletterte aus dem Fenster und rannte davon.
     
    Vier Wochen später schickte
die Polizei die Ladung zur Vernehmung an seine Meldeadresse. Und weil er sich,
wie viele Studenten, nicht umgemeldet hatte, landete der Brief nicht in Bonn,
sondern im elterlichen Briefkasten in Berlin. Seine Mutter glaubte, es sei ein
Strafzettel, und öffnete ihn. Am Abend gab es erst eine lange Diskussion
zwischen den Eltern über die Frage, was sie falsch gemacht hätten, dann rief
der Vater bei Patrik an. Am nächsten Tag vereinbarte seine Mutter einen Termin
mit meinem Sekretariat, und eine Woche später saß die Familie in der Kanzlei.
     
    Es waren ordentliche Leute,
der Vater war Bauleiter, stämmig, ohne Kinn, kurze Arme und Beine, die Mutter
Ende vierzig, ehemalige Sekretärin, herrisch und voller Energie. Patrik passte
nicht zu seinen Eltern. Er war ein ungewöhnlich hübscher Junge mit schmalen
Händen und dunkelbraunen Augen. Er schilderte den Tathergang. Er sei mit
Nicole seit zwei Jahren zusammen, es hätte nie Streit gegeben. Seine Mutter
fiel ihm bei jedem zweiten Satz ins Wort. Dann sagte sie, es sei natürlich ein Unfall
gewesen. Patrik sagte, es tue ihm leid, er liebe das Mädchen, er wolle sich bei
ihr entschuldigen, erreiche sie aber nicht mehr.
    Seine Mutter wurde etwas zu
laut: »Das ist wohl auch besser so. Ich will nicht, dass du sie nochmals
siehst. Außerdem gehst du nächstes Jahr ja sowieso nach St. Gallen auf die Universität.«
Der Vater redete wenig. Am Ende der Besprechung fragte er, ob es für Patrik
schlimm werde.
     
    Ich dachte, es wäre ein
kleines Mandat, das schnell erledigt wäre. Die Sache war bereits von der
Polizei zur Amtsanwaltschaft geschickt worden. Ich telefonierte mit der
Oberamtsanwältin, die das Verfahren bearbeitete. Sie hatte ein umfangreiches
Dezernat, sogenannte HG-Fälle, häusliche Gewalt. Tausende Fälle jedes Jahr,
deren Ursprung überwiegend Alkohol, Eifersucht und Streit um Kinder sind. Sie
sagte mir schnelle Akteneinsicht zu.
    Zwei Tage später hatte ich die
kaum 40 Seiten auf dem Computer. Das
Foto vom Rücken des Mädchens zeigte einen 15 cm langen Schnitt, glatte
Wundränder, er würde gut verheilen, eine Narbe würde nicht zurückbleiben. Aber
ich war mir sicher, dass dieser Schnitt kein Unfall war. Ein herunterfallendes
Messer verletzt anders.
    Ich bat die Familie zu einer
zweiten Besprechung, und weil die Sache nicht dringend war, sollte der Termin
erst in drei Wochen sein.
     
    Als ich fünf Tage später an
einem Donnerstagabend die Kanzlei abschloss und das Licht im Treppenhaus
anschaltete, saß Patrik dort auf den Stufen. Ich sagte, er solle reinkommen,
aber er schüttelte den Kopf. Er hatte glasige Augen und hielt eine unangezündete
Zigarette in den Fingern. Ich ging zurück in die Kanzlei, holte einen
Aschenbecher und gab ihm Feuer. Dann setzte

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