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von Schirach, Ferdinand

von Schirach, Ferdinand

Titel: von Schirach, Ferdinand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verbrechen
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wieder den
Apfel sehen. Die Ameisen arbeiteten unbeeindruckt weiter. Er atmete den Geruch
des Grases, der Erde und des faulenden Apfels ein. Er schloss die Augen und war
wieder in Äthiopien.
     
     
    Sein Leben begann wie in einem
bösen Märchen: Er wurde ausgesetzt. Eine leuchtend grüne Plastikwanne stand auf
den Stufen des Pfarrhauses einer kleinen Gemeinde in der Nähe von Gießen. Das
Neugeborene lag auf einer verfilzten Decke und war unterkühlt. Wer auch immer
es dort abgestellt hatte, hatte ihm nichts hinterlassen - keinen Brief, kein
Bild, keine Erinnerung. Die Wanne gab es in jedem Kaufhaus, die Decke stammte
aus Bundeswehrbeständen.
    Der Pfarrer informierte sofort
die Polizei, aber die Mutter wurde nicht gefunden. Das Baby kam in ein
Kinderheim, und nach drei Monaten gaben die Behörden es zur Adoption frei.
     
    Die Michalkas, die selbst
keine Kinder hatten, nahmen ihn auf und tauften ihn auf den Namen Frank Xaver.
Sie waren schweigsame, harte Menschen, Hopfenbauern aus einer beschaulichen
Gegend Oberfrankens, sie hatten keine Erfahrung mit Kindern. Sein Adoptivvater
sagte immer: »Das Leben ist kein Zuckerschlecken« und streckte dabei seine
bläuliche Zunge heraus und leckte sich über die Lippen. Er behandelte Mensch,
Vieh und Hopfenstöcke mit gleichem Respekt und gleicher Strenge. Er schimpfte
mit seiner Frau, wenn sie zu weich mit dem Kind war. »Du verdirbst ihn mir«,
sagte er und dachte an die Schäfer, die ihre Hunde nie streicheln.
     
    Im Kindergarten wurde er
gehänselt, mit sechs Jahren wurde er eingeschult. Nichts glückte ihm. Er war
hässlich, er war zu groß, und vor allem war er zu wild. Die Schule fiel ihm
schwer, seine Rechtschreibung war eine Katastrophe, in beinahe jedem Fach
schrieb er die schlechtesten Noten. Die Mädchen hatten Angst vor ihm oder waren
von seinem Aussehen abgestoßen. Er war unsicher und daher großmäulig. Seine
Haare machten ihn zum Außenseiter. Die meisten hiel ten ihn für dumm, nur seine
Deutschlehrerin sagte, er habe andere Begabungen. Sie ließ ihn manchmal kleine
Reparaturen an ihrem Haus machen und schenkte ihm sein erstes Taschenmesser. Michalka
bastelte ihr zu Weihnachten eine Windmühle aus Holz. Die Flügel drehten sich,
wenn man dagegenblies. Die Lehrerin heiratete einen Mann aus Nürnberg und
verließ in den Sommerferien das Dorf. Sie hatte dem Jungen nichts davon gesagt,
und als er das nächste Mal zu ihr ging, fand er die Windmühle vor dem Haus in
einem Bauschuttcontainer.
     
    Michalka blieb zweimal sitzen.
Mit dem Hauptschulabschluss verließ er die Schule und begann eine Lehre als
Schreiner in der nächstgrößeren Stadt. Niemand hänselte ihn jetzt mehr, er war 1 ,97 Meter groß. Die
Gesellenprüfung bestand er nur, weil er im praktischen Teil überragend war.
Seinen Militärdienst leistete er in einer Fernmeldeeinheit in der Nähe von
Nürnberg ab. Er legte sich mit seinen Vorgesetzten an und verbrachte einen Tag
in der Arrestzelle.
     
    Nach der Entlassung fuhr er
per Anhalter nach Hamburg. Er hatte einen Film gesehen, der in der Stadt
spielte, es gab dort schöne Frauen, breite Straßen, einen Hafen und ein
richtiges Nachtleben. Dort musste alles besser werden, »in Hamburg wohnt die
Freiheit«, hatte er irgendwo gelesen.
    Der Inhaber einer
Bauschreinerei in Fuhlsbüttel stellte ihn ein und gab ihm ein Zimmer über der
Fabrikhalle. Das Zimmer war sauber, Michalka war geschickt, und man war mit
ihm zufrieden. Obwohl ihm oft die Begriffe fehlten, verstand er die technischen
Zeichnungen, korrigierte sie und konnte sie umsetzen. Als in der Firma Geld aus
einem Spind gestohlen wurde, wurde er entlassen. Er war der Letzte, der eingestellt
worden war, und zuvor hatte es noch nie einen Diebstahl in der Firma gegeben.
Die Polizei fand die Geldkassette zwei Wochen später in der Wohnung eines
Drogenabhängigen - Michalka hatte nichts damit zu tun gehabt.
     
    Auf der Reeperbahn traf er
einen Kumpel aus der Bundeswehr, der ihm einen Job als Hausmeister in einem
Bordell vermittelte. Michalka wurde zum Mädchen für alles. Er lernte den Rand
der Gesellschaft kennen, Zuhälter, Geldverleiher, Prostituierte,
Drogenabhängige, Schläger. Er hielt sich raus, so gut er konnte. Er wohnte zwei
Jahre in einem dunklen Zimmer im Souterrain des Bordells, und dann begann er
zu trinken. Er konnte das Elend um sich herum nicht ertragen. Die Frauen in dem
Bordell mochten ihn und erzählten ihm ihre Schicksale. Er kam damit nicht
zurecht. Er machte Schulden bei

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