von Schirach, Ferdinand
den falschen Leuten. Weil er nicht zurückzahlen
konnte, wuchsen die Zinsen. Er wurde zusammengeschlagen, blieb in einem
Hauseingang liegen und wurde von der Polizei aufgegriffen. Michalka wusste,
dass er so untergehen würde.
Er beschloss, es im Ausland zu
versuchen, das Land war ihm dabei völlig gleichgültig. Er dachte nicht lange
nach und nahm sich von einer der Frauen in dem Bordell einen Strumpf. Er betrat
die Sparkasse, streifte ihn sich, wie er es einmal in einem Film gesehen hatte,
über das Gesicht, bedrohte die Kassiererin mit einer Plastikpistole und
erbeutete 12.000 DM. Die
Polizei sperrte die Straßen ab und kontrollierte jeden Fußgänger, aber Michalka
stieg fast in Trance in den Bus zum Flughafen. Er kaufte sich ein Economy-Ticket nach Addis Abeba, weil er
dachte, dass die Stadt in Asien läge, jedenfalls weit weg. Niemand hielt ihn
auf. Vier Stunden nach dem Überfall saß er im Flugzeug, sein einziges Gepäck
war eine Plastiktüte. Als das Flugzeug abhob, hatte er Angst.
Nach zehn Stunden Flug, dem
ersten in seinem Leben, landete er in der Hauptstadt Äthiopiens. Am Flughafen
kaufte er ein Visum für sechs Monate.
Fünf Millionen Einwohner, 60.000 Kinder auf der Straße,
Prostitution, Kleinkriminalität, Armut, unendlich viele Bettler, Behinderte an
den Straßenrändern, die ihr Handicap zeigten, um Mitleid zu erregen - nach
drei Wochen war Michalka klar: Das Elend in Hamburg und Addis Abeba nahm sich
nichts. Er traf auf ein paar Deutsche, eine Kolonie der Gescheiterten. Die
hygienischen Zustände waren katastrophal, Michalka infizierte sich mit Typhus,
er bekam Fieber, Hautausschlag und Durchfall, bis ein Bekannter eine Art Arzt
auftrieb, der ihm Antibiotika verabreichte. Erneut war er am Ende.
Michalka war sich jetzt
sicher, dass die Welt eine Müllhalde ist. Er hatte keine Freunde, keine
Aussichten, nichts, was ihn halten könnte. Nach sechs Monaten in Addis Abeba
beschloss er, seinem Leben ein Ende zu setzen, Bilanzselbstmord. Aber
wenigstens wollte er nicht im Dreck sterben. Von dem Geld waren noch rund 5.000 DM übrig. Er nahm den Zug in
Richtung Dschibuti. Ein paar Kilometer hinter Dire Dawa begann er seine Wanderung
durch das Weideland. Er schlief auf dem Boden oder in winzigen Absteigen, er
wurde von einem Moskito gestochen, der ihn mit Malaria infizierte. Er fuhr mit
einem Bus ins Hochland, unterwegs brach die Malaria aus, er bekam
Schüttelfrost. Irgendwo stieg er aus, lief wirr und krank durch die
Kaffeeplantagen, vor seinen Augen verschwamm die Welt. Er stürzte und fiel
zwischen Kaffeesträuchern zu Boden. Bevor ihn das Bewusstsein verließ, war sein
letzter Gedanke: »Das war alles eine große Scheiße.«
Zwischen zwei Fieberschüben
erwachte Michalka. Er bekam mit, dass er in einem Bett lag, ein Arzt und viele
fremde Menschen standen um ihn herum. Alle waren schwarz. Er verstand, dass die
Menschen ihm halfen, und sank zurück in seine Fieberalbträume. Die Malaria war
brutal. Hier im Hochland gab es keine Moskitos, aber man kannte die Krankheit
gut und verstand sie zu behandeln. Der seltsame Fremde, den man in der Plantage
gefunden hatte, würde überleben.
Das Fieber klang langsam ab, Michalka
schlief fast 24 Stunden. Als er erwachte, lag er alleine in einem
weiß getünchten Raum. Seine Jacke und seine Hose waren gewaschen und lagen
ordentlich über dem einzigen Stuhl in dem Zimmer, der Rucksack stand daneben.
Als er versuchte aufzustehen, sackten seine Beine weg, ihm wurde schwarz vor
Augen. Er setzte sich auf das Bett und blieb eine Viertelstunde sitzen. Dann
versuchte er es ein zweites Mal. Er musste dringend auf Toilette. Er öffnete
die Tür und trat in den Flur. Eine Frau kam auf ihn zu, gestikulierte heftig
mit den Armen und schüttelte den Kopf: »No, no, no.« Sie hakte sich bei ihm
unter und drängte ihn zurück in das Zimmer. Er machte ihr sein Bedürfnis
deutlich, sie nickte und zeigte auf einen Eimer unter dem Bett. Er fand die
Frau schön und schlief wieder ein.
Als er das nächste Mal
erwachte, fühlte er sich besser. Er sah in seinen Rucksack, das Geld war
vollzählig. Er konnte das Zimmer verlassen. Er war allein in dem winzigen Haus,
das aus zwei Zimmern und einer Küche bestand. Alles hier war sauber und
ordentlich. Er trat aus dem Haus auf einen kleinen Dorfplatz. Die Luft war
frisch und angenehm kühl. Kinder stürmten auf ihn zu. Sie lachten. Sie wollten
seine roten Haare anfassen. Nachdem er es verstanden hatte, setzte er
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