von Schirach
gewesen, die im Warmen saßen und das Fenster nur einen Spalt öffnen
mussten. Es waren minus neun Grad, in der verharschten Schneedecke standen nur
ein paar erfrorene Gräser, die feuchte Kälte kroch durch die Uniform in die
Knochen. Sie wäre gerne vorne gewesen und hätte die Autos ausgewählt, die
kontrolliert wurden, aber das machten die Älteren. Sie hatte sich erst vor zwei
Monaten von Köln nach Berlin versetzen lassen. Jetzt sehnte sie sich nach ihrer
Badewanne. Die Kälte war einfach nichts für sie, in Köln war es nie so kalt.
Das nächste Fahrzeug war ein Opel Omega, silbergrau, polnisches
Kennzeichen. Der Wagen wirkte gepflegt, keine Beulen, alle Lichter in Ordnung.
Der Fahrer betätigte den Fensterheber und reichte Führerschein und Wagenpapiere
heraus. Es schien alles ganz normal, er roch nicht nach Alkohol, er lächelte
freundlich. Die Polizistin wusste nicht, weshalb, aber sie hatte ein komisches
Gefühl. Während sie die Papiere las, versuchte sie darauf zukommen. In ihrer
Ausbildung hatte sie gelernt, ihren Instinkten zu vertrauen, aber sie musste
auch eine logische Erklärung für sie finden.
Es war ein Leihwagen einer internationalen Firma, der Mietvertrag lief auf
den Fahrer, alle Papiere waren vorhanden. Und dann wurde ihr klar, was sie
irritierte: Der Wagen war leer. Nichts lag in dem Auto, kein zerknülltes
Kaugummipapier, keine Zeitschriften, kein Koffer, keine Feuerzeuge, keine
Handschuhe, gar nichts. Der Wagen war so vollkommen leer, als wäre er eben vom
Werk ausgeliefert worden. Der Fahrer konnte kein Deutsch. Sie winkte einen
Kollegen heran, der etwas Polnisch sprach. Sie ließen den Mann aussteigen, er
lächelte noch immer. Sie baten ihn, den Kofferraum zu öffnen, der Fahrer nickte
und betätigte den Knopf. Auch hier war alles fast steril sauber, und nur in der
Mitte lag ein Aktenkoffer aus rotem Lederimitat. Die Polizistin zeigte darauf
und machte ein Zeichen, dass der Mann ihn öffnen solle. Der zuckte mit den
Schultern und schüttelte den Kopf. Sie beugte sich vor und sah sich die
Schlösser an. Es waren einfache Zahlenschlösser, die auf Null gestellt waren,
sie ließen sich sofort öffnen. Sie klappte den Deckel des Koffers hoch. Sie
schreckte so heftig zurück, dass sie mit ihrem Hinterkopf gegen die
Fahrzeugklappe prallte. Sie schaffte es noch, sich zur Seite zu drehen, dann
erbrach sie sich auf die Straße. Der Kollege, der den Inhalt des Koffers nicht
gesehen hatte, zog seine Waffe und schrie den Fahrer an, er solle seine Hände
auf das Wagendach legen. Andere Polizisten rannten zu ihnen, der Fahrer wurde
überwältigt. Die Polizistin war bleich, Erbrochenes klebte in ihren
Mundwinkeln. Sie sagte: »O mein Gott«, und dann übergab sie sich ein weiteres
Mal.
Die Polizisten brachten den Mann in die Keithstraße, dort ist die Abteilung
»Delikte am Menschen«. Der rote Aktenkoffer wurde an das Rechtsmedizinische
Institut geschickt. Obwohl es Samstag war, war Lanninger, der Chef der Gerichtsmedizin,
gerufen worden. Im Koffer waren achtzehn Farbfotokopien von Leichen, vermutlich
Ausdrucke von einem Laserkopierer. Sie hatten alle einen ähnlichen
Gesichtsausdruck, die Münder weit aufgerissen, die Augäpfel hervorgequollen.
Menschen sterben, und Gerichtsmediziner beschäftigen sich damit, es ist ihr
Beruf. Aber die Bilder waren selbst für Mitarbeiter des Instituts
ungewöhnlich: Die Toten, elf Männer und sieben Frauen, lagen alle in derselben
verdrehten Haltung auf dem Rücken, als sie fotografiert wurden, und sie sahen
sich merkwürdig ähnlich: Sie waren nackt, und aus ihrem Bauch ragte die grobe
Spitze eines hölzernen Pfahls.
»Jan Bathowiz« stand in dem polnischen Pass. Als er eingeliefert wurde,
wollten sie ihn sofort vernehmen, der Polizeidolmetscher stand bereit. Bathowiz
war höflich, fast devot, aber er wiederholte immer wieder, er wolle zuerst
seine Botschaft anrufen. Das war sein Recht, und schließlich gestattete man
ihm diesen Anruf. Er sagte seinen Namen, und die Rechtsabteilung der Botschaft
riet ihm zu schweigen, bis ein Anwalt käme. Auch das war sein Recht, und
Bathowiz machte von seinem Recht Gebrauch.
Kriminalhauptkommissar Pätzold konnte den Beschuldigten bis zum Ablauf des
nächsten Tages festhalten, und das wollte er auch. Also wurde er in die
Gefangenensammelstelle gebracht und in eine Zelle eingeschlossen. Man nahm ihm,
wie jedem Gefangenen, die Schnürsenkel und den Gürtel ab, damit er sich nicht
erhängt. Als ich am nächsten Tag um
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