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von Schirach

von Schirach

Titel: von Schirach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schuld
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einen Haftbefehl zu beantragen, Pätzold blieb keine Wahl. Er
fragte Bathowiz, ob er der Polizei die Aktentasche überlassen würde. Bathowiz
zuckte mit den Schultern, er wollte nur eine Quittung dafür. Um 19:00 Uhr durfte er das
Polizeirevier verlassen, auf den Stufen des alten Gebäudes verabschiedete er
sich von mir. Er ging zu seinem Wagen und verschwand.
     
    Zwanzig Polizisten postierten sich am nächsten Tag in der Nähe der
Telefonzelle, die Streifenwagen in der Nähe waren alarmiert. Ein Zivilbeamter
polnischer Abstammung, der in etwa die Statur von Bathowiz hatte und ähnliche
Kleidung trug, stand mit dem roten Aktenkoffer um 17:00 Uhr in der Telefonzelle. Ein
Richter hatte die Überwachung der Leitung genehmigt. Das Telefon klingelte
nicht.
     
    Ein Jogger fand den Toten am Dienstag Morgen auf einem Waldparkplatz. Das
Kaliber 6,35 mm Browning
hatte nur kleine Löcher hinterlassen, kreisrund mit kaum einem halben
Zentimeter Durchmesser. Es war eine Hinrichtung. Pätzold konnte nur eine neue
Akte anlegen und die polnischen Kollegen informieren. Die Leichensache
Bathowiz wurde nie aufgeklärt.
     
    Verlangen
     
    Sie hatte den Stuhl vor das Fenster gestellt, sie trank gerne den Tee dort.
Von hier aus konnte sie auf den Spielplatz sehen. Ein Mädchen schlug ein Rad,
zwei Jungs sahen ihr zu. Das Mädchen war ein bisschen älter als die Jungs. Als
sie hinfiel, begann sie zu weinen. Sie rannte zu ihrer Mutter und zeigte ihr
den aufgeschürften Ellbogen. Die Mutter hatte eine Wasserflasche und ein
Taschentuch dabei, sie tupfte die Wunde sauber. Das Mädchen sah zu den Jungs,
während sie zwischen den Beinen ihrer Mutter stand und ihr den Arm hinhielt. Es
war Sonntag. Er würde in einer Stunde mit den Kindern zurückkommen. Sie würde
den Kaffeetisch decken, Freunde waren zum Besuch angemeldet. Es war still in
der Wohnung. Sie starrte weiter auf den Spielplatz, ohne zu sehen, was dort
passierte.
     
    Es ging ihnen gut. Sie machte alles, wie sie es immer gemacht hatte. Die
Gespräche mit ihrem Mann über die Arbeit, die Einkäufe im Supermarkt, die
Tennisstunden für die Kinder, Weihnachten bei den Eltern oder Schwiegereltern.
Sie sagte die gleichen Sätze, die sie immer sagte, sie trug die gleichen
Sachen, die sie immer trug. Sie ging mit ihren Freundinnen Schuhe kaufen und
einmal im Monat ins Kino, wenn es der Babysitter zuließ. Sie hielt sich über
Ausstellungen und Theaterinszenierungen auf dem Laufenden. Sie sah Nachrichten,
las den Politikteil der Tageszeitung, kümmerte sich um die Kinder, ging zu den
Elternsprechtagen. Sie machte keinen Sport, aber hatte trotzdem nicht
zugenommen.
    Ihr Mann passte zu ihr, das hatte sie immer geglaubt. Er konnte nichts
dafür. Niemand konnte etwas dafür. Es war einfach passiert. Sie hatte nichts
dagegen tun können. Sie erinnerte sich an jede Einzelheit des Abends, an dem
alles klar wurde.
    »Bist du krank?«, hatte er gesagt. »Du siehst bleich aus.«
    »Nein.«
    »Was hast du?«
    »Nichts, Liebling, ich gehe jetzt ins Bett. Es war ein langer Tag.«
    Viel später, als sie im Bett gelegen hatten, hatte sie plötzlich nicht mehr
atmen können. Sie hatte bis zum Morgen wach gelegen, steif vor Angst und
Schuld, Krampf in den Oberschenkeln. Sie hatte es nicht gewollt, aber es war
nicht mehr verschwunden. Und als sie den Kindern am nächsten Morgen Frühstück
gemacht und ihre Schulranzen kontrolliert hatte, hatte sie gewusst, ihr Gefühl
würde nie wieder anders sein: Alles in ihr war leer. Sie würde damit
weiterleben müssen.
     
    Das war vor zwei Jahren gewesen. Sie lebten immer noch zusammen, er sah es
ihr nicht an, niemand sah es ihr an. Sie schliefen selten miteinander, und
wenn sie es taten, war sie freundlich mit ihm.
     
    Allmählich verschwand alles, bis sie nur noch eine Hülle war. Die Welt
wurde ihr fremd, sie gehörte nicht mehr dazu. Die Kinder lachten, ihr Mann
regte sich auf, ihre Freunde diskutierten - nichts berührte sie. Sie war ernst,
lachte, weinte, tröstete - alles wie immer und je nach Bedarf. Aber wenn es
still wurde, wenn sie anderen Menschen im Cafe und in der Straßenbahn zusah,
dachte sie, es ginge sie nichts mehr an.
     
    Irgendwann begann sie damit. Sie stand eine halbe Stunde vor dem Regal mit
den Strümpfen, ging weg, kam zurück. Dann griff sie zu, Größe und Farbe egal.
Sie stopfte die Packung unter den Mantel, zu hastig, die Strümpfe rutschten zu
Boden, sie bückte sich, dann los. Ihr Herz raste, Puls im Hals, Flecken auf
den Händen.

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