von Schirach
Ohren des
Anderen, er sah den vergilbten Rand des weißen Hemdkragens.
Er konnte nicht anders.
Jetzt saß Paulsberg auf dem Bett. Das Hotelzimmer war wie die tausend
anderen, in denen er geschlafen hatte. Zwei Schokoladenriegel in der braunen
Minibar, eingeschweißte Erdnüsse, der gelbe Flaschenöffner aus Plastik. Der
Geruch nach Desinfektionsmitteln, flüssige Seife im Bad und das Schild auf den
Kacheln, dass es der Umwelt helfe, wenn man die Handtücher mehrmals benutze.
Er schloss die Augen und dachte an das Pferd. Am Morgen war er über die
Brücke gegangen, weiter über die Steintreppe zu den Rheinauen in den Frühnebel,
der vom Fluss hochkam. Und plötzlich hatte es vor ihm gestanden, dampfend, die
Nüstern hellrot und weich.
Irgendwann würde er sie anrufen müssen. Sie würde ihn fragen, wann er
zurückkomme. Sie würde von ihrem Tag erzählen, von den Leuten in der Kanzlei,
der Putzfrau, die die Mülltonnen zu laut zuschlage, und all den anderen Dingen,
die ihr Leben ausmachten. Er würde nicht über den Anderen sprechen. Und dann
würden sie auflegen und versuchen weiterzuleben.
Paulsberg hörte den Anderen im Bad stöhnen. Er warf die Zigarette in ein
halb volles Wasserglas, nahm seine Reisetasche, verließ das Zimmer. Als er an
der Rezeption die Rechnung bezahlte, sagte er, es sei besser, oben schnell
aufzuräumen. Das Mädchen hinter dem Tresen sah ihn an, aber er sagte sonst
nichts.
Sie fanden den Anderen zwanzig Minuten später. Er überlebte.
Paulsberg hatte es mit dem Aschenbecher aus dem Zimmer gemacht. Er war aus
dunklem Rauchglas, Siebzigerjahre, schwer und dick. Der Gerichtsmediziner
nannte es später stumpfe Gewalteinwirkung, die Ränder der Einschlagstellen
waren nicht scharf abzugrenzen. Der Aschenbecher passte als Tatwerkzeug.
Paulsberg hatte die Löcher im Kopf des Anderen gesehen, aus ihnen war Blut
gequollen, heller, als er es erwartet hatte. »Er stirbt nicht«, hatte Paulsberg
gedacht, während er weiter die Schädeldecke zerschlagen hatte, »er blutet,
aber er stirbt nicht.« Am Ende hatte Paulsberg den Anderen zwischen Badewanne
und Toilette eingeklemmt, seinen Kopf hatte er mit dem Gesicht auf den
Toilettendeckel gelegt. Paulsberg hatte ein letztes Mal zuschlagen wollen. Er
hatte ausgeholt. Die Haare des Anderen waren verklumpt gewesen, sie hatten im
Blut hart ausgesehen, schwarze Drahtstifte auf der hellen Kopfhaut. Plötzlich
hatte Paulsberg an seine Frau denken müssen. Wie sie sich das erste Mal
verabschiedet hatten, im Januar vor zehn Jahren, Himmel aus Eis, sie hatten auf
der Straße vor dem Flughafen gestanden und gefroren. Er hatte an ihre dünnen
Schuhe im Schneematsch gedacht, an den blauen Mantel mit den großen Knöpfen,
sie hatte den Kragen hochgeklappt, sich mit einer Hand das Revers zugehalten,
sie hatte gelacht, sie war einsam gewesen und schön und verletzt. Als sie ins
Taxi gestiegen war, hatte er gewusst, dass sie zu ihm gehörte.
Paulsberg hatte den Aschenbecher auf den Boden gestellt, die Beamten
fanden ihn später zwischen den roten Schlieren auf den Kacheln. Der Andere
hatte noch leise geröchelt, als er ging. Paulsberg hatte nicht mehr töten
wollen.
Die Hauptverhandlung begann fünf Monate später. Paulsberg war wegen
versuchten Mordes angeklagt. Er habe versucht, den Anderen von hinten zu
erschlagen, sagte der Staatsanwalt. In der Anklageschrift stand, es sei um
Kokain gegangen. Der Staatsanwalt konnte es nicht besser wissen.
Paulsberg nannte keinen Grund für die Tat, er sprach nicht über den
Anderen. »Rufen Sie meine Frau an«, war das Einzige, was er den Polizisten nach
seiner Festnahme gesagt hatte, mehr gab es nicht. Die Richter suchten das
Motiv. Niemand erschlägt einfach einen anderen in seinem Hotelzimmer, der
Staatsanwalt hatte keine Verbindung zwischen den Männern finden können. Der Psychiater
hatte gesagt, Paulsberg sei »völlig normal«, in seinem Blut wurden keine
Drogen gefunden, niemand glaubte, er habe aus Mordlust getötet.
Der Einzige, der Aufschluss hätte geben können, war der Andere. Aber auch
er schwieg. Die Richter konnten ihn nicht zwingen auszusagen. Die Polizei hatte
in seiner Tasche und auf dem Glastisch Kokain gefunden, es lief ein Ermittlungsverfahren
gegen ihn, und das erlaubte ihm zu schweigen - er hätte sich mit einer Aussage
selbst belasten können.
Natürlich müssen Richter das Motiv eines Angeklagten nicht kennen, um ihn
verurteilen zu können. Aber sie wollen wissen, warum
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