von Schirach
Menschen tun, was sie
tun. Und nur wenn sie es verstehen, können sie den Angeklagten nach seiner
Schuld bestrafen. Verstehen sie es nicht, fällt die Strafe fast immer höher
aus.
Die Richter wussten nicht, dass Paulsberg seine Frau schützen wollte. Sie
war Anwältin, er hatte ein Verbrechen begangen. Ihre Kanzlei hatte sie noch
nicht entlassen: Niemand kann etwas für einen verrückten Ehemann. Aber die
Partneranwalte würden die Wahrheit, sie würden die fremden Männer nicht
akzeptieren können, und sie hätte in der Kanzlei so nicht weiterarbeiten können.
Paulsberg überließ die Entscheidung seiner Frau. Sie sollte tun, was sie für
richtig hielt.
Sie erschien ohne Zeugenbeistand. Sie wirkte zerbrechlich, zu filigran für
Paulsberg. Der Vorsitzende belehrte sie. Niemand glaubte, es könne in diesem
Prozess noch etwas passieren. Aber als sie zu reden begann, änderte sich alles.
In fast jedem Schwurgerichtsprozess gibt es diesen einen Moment, in dem
plötzlich alles klar wird. Ich dachte, sie würde über die fremden Männer sprechen.
Aber sie erzählte eine andere Geschichte. Sie sprach 45 Minuten ohne jede Unterbrechung,
sie war klar, eindeutig und ohne Widersprüche. Sie sagte, sie habe eine Affäre
mit dem Anderen gehabt, Paulsberg habe das herausbekommen. Er habe sich von ihr
trennen wollen. Er sei verrückt vor Eifersucht gewesen. Es sei ihre Schuld,
nicht seine. Sie sagte, ihr Mann habe den Film gefunden, den sie und ihr
Liebhaber gemacht hätten. Sie übergab dem Gerichtsdiener eine DVD. Paulsberg
und sie hatten oft solche Filme gemacht, dieser stammte von dem Treffen mit
dem Anderen, die Videokamera hatte auf einem Stativ neben dem Bett gestanden.
Die Öffentlichkeit wurde ausgeschlossen, wir mussten ihn ansehen. Auf
unzähligen Seiten im Internet findet man solche Filme. Es gab keinen Zweifel,
der Andere war der Mann, der mit ihr geschlafen hatte. Der Staatsanwalt
beobachtete Paulsberg während der Vorführung. Er blieb ruhig.
Der Staatsanwalt hatte noch einen weiteren Fehler gemacht. Unser
Strafgesetz ist über 130 Jahre alt. Es ist ein kluges Gesetz. Manchmal laufen
die Dinge nicht so, wie der Täter es will. Sein Revolver ist geladen, er hat
fünf Schuss. Er geht auf sie zu, er schießt, er will sie töten. Viermal
verfehlt er sein Ziel, nur ein Streifschuss trifft sie am Arm. Dann steht er
direkt vor ihr. Er stößt den Lauf des Revolvers gegen ihren Bauch, er spannt
den Hahn, er sieht das Blut ihren Arm herunterlaufen, er sieht ihre Angst.
Vielleicht denkt er jetzt noch einmal nach. Ein schlechtes Gesetz würde den
Mann wegen Tötungsversuchs verurteilen, ein kluges Gesetz will die Frau retten.
Unser Strafgesetzbuch sagt, er kann von seinem Versuch zu töten straffrei
zurücktreten. Das heißt: Wenn er jetzt aufhört, wenn er sie nicht tötet, wird
er nur wegen einer gefährlichen Körperverletzung bestraft - nicht aber wegen
Mordversuchs. Es liegt also an ihm, das Gesetz wird ihn freundlich behandeln,
wenn er jetzt noch das Richtige tut, wenn er sein Opfer am Leben lässt. Die
Professoren nennen das »goldene Brücke«. Ich mochte diesen Ausdruck nie, die
Dinge sind zu schwierig, die dabei in einem Menschen vorgehen, und eine goldene
Brücke passt besser in einen chinesischen Garten. Aber die Idee des Gesetzes
ist richtig.
Paulsberg hatte aufgehört, den Kopf des Anderen zu zerschlagen. Er wollte
ihn am Ende nicht mehr töten. Damit trat er von dem Mordversuch zurück, die
Richter konnten ihn nur wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilen.
Das Gericht konnte weder die Einlassung Paulsbergs noch die Aussage seiner
Frau und damit sein Motiv widerlegen. Die Schwurgerichtskammer verurteilte ihn
zu drei Jahren und sechs Monaten.
Seine Frau besuchte ihn regelmäßig im Gefängnis, dann wurde er in den
offenen Vollzug verlegt. Zwei Jahre nach dem Prozess wurde die restliche Strafe
zur Bewährung ausgesetzt. Sie kündigte ihre Stelle in der Kanzlei, und sie
zogen in ihre Heimatstadt nach Schleswig-Holstein. Sie eröffnete dort eine
kleine Anwaltspraxis. Er hatte seine Läden und das Haus verkauft und begann zu
fotografieren. Vor Kurzem hatte er in Berlin seine erste Ausstellung: Alle
Fotos zeigten eine nackte Frau ohne Gesicht.
Der Koffer
Die Polizeimeisterin stand auf einem Parkplatz am Berliner Autobahnring und
fror. Sie war zusammen mit ihrem Kollegen an letzter Position in einer
Routinekontrolle, ein langweiliger Job, und sie wäre lieber einer der
Autofahrer
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