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von Schirach

von Schirach

Titel: von Schirach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schuld
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Ihr ganzer Körper war nass. Sie spürte die Beine nicht, zitterte,
weitergehen, an der Kasse vorbei, einer rempelte sie an. Dann eiskalte
Abendluft, Regen. Das Adrenalin überschwemmte sie, sie wollte schreien. Zwei
Ecken weiter warf sie die Strümpfe in einen Mülleimer. Sie zog die Schuhe aus,
rannte durch den Regen bis nach Hause. Vor ihrer Tür sah sie in den Himmel, das
Wasser klatschte auf ihre Stirn, auf ihre Augen, auf ihren Mund. Sie lebte.
     
    Sie stahl immer nur überflüssige Dinge. Und sie stahl nur, wenn sie alles
andere nicht mehr aushielt. Es würde nicht immer gut gehen, das wusste sie.
Ihr Mann würde sagen, das läge in der Natur der Sache. Er sagte immer solche
Sätze. Er hatte recht. Als der Detektiv sie anhielt, gestand sie alles sofort,
noch auf der Straße. Passanten blieben stehen, sahen sie an, ein Kind zeigte
auf sie und sagte: »Die Frau hat gestohlen.« Der Detektiv hielt sie fest, ihren
Arm umklammert. Er brachte sie in sein Büro und schrieb für die Polizei eine
Anzeige: Name, Anschrift, Personalausweisnummer, Tathergang, Warenwert: 12,99 Euro, Feld zum Ankreuzen:
»zugegeben: Ja/Nein«. Er trug ein kariertes Hemd und roch nach Schweiß. Sie war
die Frau mit der Louis-Vuitton-Handtasche und dem Gucci-Portemonnaie, mit
Kreditkarten und 845,36 Euro
in bar. Er zeigte ihr, wo sie unterschreiben solle. Sie las den Bogen durch
und überlegte einen Moment, ob sie seine Rechtschreibfehler korrigieren
sollte, wie sie das bei ihren Kindern tat. Er sagte, sie bekomme Post von der
Polizei, und grinste sie an. Auf dem Tisch lagen die Reste eines
Wurstbrötchens. Sie dachte an ihren Mann, sie sah einen Prozess vor sich,
einen Richter, der sie befragte. Der Detektiv brachte sie durch einen
Seiteneingang nach draußen.
     
    Die Polizei forderte sie zur schriftlichen Stellungnahme auf. Sie kam mit
dem Schreiben in meine Kanzlei, es war schnell erledigt. Es war das erste Mal,
der Wert war gering, sie war nicht vorbestraft. Der Staatsanwalt stellte das
Verfahren ein. Niemand in der Familie erfuhr von der Sache.
     
    Die Dinge beruhigten sich, wie sich alles in ihrem Leben beruhigt hatte.
     
    Schnee
     
    Der alte Mann stand in der Küche und rauchte. Es war warm an diesem Tag im
August, er hatte die Fenster weit geöffnet. Er sah sich den Aschenbecher an:
nackte Meerjungfrau mit grünem Fischschwanz, darunter in Schreibschrift
»Willkommen auf der Reeperbahn«. Er wusste nicht, woher er ihn hatte. Die
Farbe des Mädchens war verblasst, das »R« von »Reeperbahn« war verschwunden.
Die Wassertropfen klatschten in die Metallspüle, langsam und hart. Es beruhigte
ihn. Er würde immer weiter am Fenster stehen und rauchen und nichts tun.
    Vor dem Haus hatte sich das Spezialeinsatzkommando gesammelt. Die
Polizisten trugen Uniformen, die zu groß aussahen, schwarze Helme und
durchsichtige Schilde. Sie wurden eingesetzt, wenn es für die anderen zu
schwierig wurde, wenn Waffen und Widerstand erwartet wurden. Es waren harte
Männer mit einem harten Kodex. Es hatte auch auf ihrer Seite Tote und Verletzte
bei ihren Einsätzen gegeben, das Adrenalin staute sich in ihnen. Sie hatten
ihren Einsatzbefehl: »Drogenwohnung, Verdächtige vermutlich bewaffnet,
Festnahme.« Sie standen jetzt lautlos neben den Mülltonnen im Hof, sie warteten
im Treppenhaus und vor der Wohnung, es war zu heiß unter ihren Helmen und
Sturmmasken. Sie warteten auf das Wort des Einsatzleiters, jeder von ihnen
wollte es jetzt hören. Irgendwann würde er »Zugriff« rufen, und dann würden sie
das tun, wofür sie ausgebildet waren.
     
    Der alte Mann am Fenster dachte an Hassan und seine Freunde. Sie hatten den
Schlüssel zu seiner Wohnung, und wenn sie nachts kamen, machten sie in der
Küche die Päckchen, »strecken« nannten sie es, zwei Drittel Heroin, ein
Drittel Lidocain. Sie pressten es mit dem Wagenheber zu viereckigen Klumpen,
jeder wog ein Kilogramm.
    Hassan zahlte dem alten Mann jeden Monat 1.000 Euro, und er zahlte
pünktlich. Natürlich war es zu viel für die eineinhalb Zimmer im Hinterhaus,
vierter Stock, ein wenig zu dunkel. Aber sie wollten die Wohnung des alten
Mannes, nichts war besser als »Bunker«, wie sie es nannten. Die Küche war groß
genug, und mehr brauchten sie nicht. Der alte Mann schlief in der Kammer, und
wenn sie kamen, schaltete er den Fernseher ein, damit er sie nicht hören
musste. Nur kochen konnte er nicht mehr, überall in der Küche waren
Plastikfolien, Feinwaagen, Spachtel und Klebebandrollen. Das

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