von Schirach
das schon, es passierte oft, dass sich Gefangener und
Besucher nichts zu sagen hatten. Als der Beamte sagte, die Besuchszeit sei zu
Ende, stand sie auf, beugte sich noch einmal schnell vor und flüsterte dem
alten Mann ins Ohr: »Mein Kind ist von Hassan.« Er roch ihr Parfüm, er spürte
ihre Haare auf seinem alten Gesicht. Sie wurde rot. Das war alles. Dann ging
sie, und er wurde wieder in seine Zelle gebracht. Er saß auf dem Bett und
starrte auf seine Hände, auf die Altersflecken und Narben, er dachte an Jana
und das Baby in ihrem Bauch, er dachte daran, wie es dort warm war und sicher,
und er wusste, was er zu tun hatte.
Als Jana nach Hause kam, schlief Hassan. Sie zog sich aus, legte sich vor
ihn, sie spürte seinen Atem in ihrem Nacken. Sie liebte diesen Mann, den sie
sich nicht erklären konnte. Er war anders als die Jungen aus ihrem Dorf in
Polen, er war erwachsen, und seine Haut schien aus Samt.
Später, als er kurz aufwachte, sagte sie ihm, dass der alte Mann nicht
gegen ihn aussagen würde, er könne beruhigt sein. Nur müsse er etwas für ihn
tun, er müsse ihm neue Zähne bezahlen, sie habe schon mit einem Sozialarbeiter
gesprochen, der dafür sorgen könne. Niemand würde es erfahren. Sie redete zu
schnell, sie war aufgeregt. Hassan streichelte ihren Bauch, bis sie einschlief.
»Möchte Ihr Mandant Angaben zu den Hintermännern machen? Das Gericht
könnte sich vorstellen, ihn in diesem Fall vom weiteren Vollzug der
Untersuchungshaft zu verschonen.« Ich hatte die Verteidigung als
Pro-Bono-Mandat übernommen und Haftprüfung beantragt. Alles war mit dem
Gericht ausgehandelt, der Mann würde freigelassen werden. Es war kein
kompliziertes Verfahren. Die Polizisten hatten 200 Gramm Heroin in der Wohnung
gefunden. Schlimmer noch: Der alte Mann hatte ein Messer in der Tasche gehabt.
Das Gesetz nennt so etwas »Handeltreiben mit Waffen«, die Mindeststrafe beträgt
- wie beim Totschlag - fünf Jahre. Das Gesetz will damit die Beamten vor
Angriffen schützen. Der alte Mann musste den Namen des eigentlichen Täters sagen,
es schien seine einzige Chance. Aber er schwieg. »In diesem Fall dauert die
Untersuchungshaft fort«, sagte der Richter und schüttelte den Kopf.
Der alte Mann war zufrieden. Das polnische Mädchen musste ihr Kind nicht
alleine bekommen. »Das ist wichtiger als ich«, dachte er, und noch während er
es dachte, wusste er, dass er etwas anderes, etwas Bedeutenderes als seine
Freiheit gewonnen hatte.
Vier Monate später war der Prozess. Sie holten den alten Mann aus seiner
Zelle und führten ihn in den Verhandlungssaal. Vor dem Weihnachtsbaum mussten
sie kurz anhalten. Er stand im Hauptgang des Gefängnisses, riesig und fremd,
die elektrischen Kerzen spiegelten sich in den Kugeln. Sie waren ordentlich
aufgehängt, die großen unten, die kleinen oben. Das Stromkabel aus der
hellroten Kabeltrommel war am Boden mit schwarz-gelben Warnhinweisen verklebt.
Auch dafür gab es Sicherheitsvorschriften.
Den Richtern war schnell klar, dass der alte Mann nicht der Eigentümer der
Drogen sein konnte, er hätte gar nicht das Geld dafür gehabt. Trotzdem ging es
um die fünf Jahre Mindeststrafe. Niemand wollte ihn so hoch verurteilen, es
wäre ungerecht gewesen, aber es schien keinen Ausweg zu geben.
In einer Verhandlungspause geschah etwas Seltsames: Der alte Mann aß ein
Käsebrot, er schnitt es mit einem Plastikmesser in winzige Stücke. Als ich ihm
zusah, entschuldigte er sich, er habe keine Zähne mehr und müsse alles, was er
esse, so klein schneiden. Der Rest war dann einfach. Dafür - und nur dafür -
hatte er das Messer in der Tasche gehabt: Er brauchte es, um essen zu können.
Es gab eine Entscheidung des Bundesgerichtshofes, wonach es kein Handeltreiben
mit einer Waffe sei, wenn das Messer eindeutig eine andere Bestimmung habe.
Die Sache mit den Zähnen war vielleicht eine merkwürdige Erklärung, aber es
war auch der letzte Prozess in diesem Jahr. Alle waren gelöst, in den Pausen
erzählte der Staatsanwalt von den Geschenken, die er noch nicht gekauft hatte,
und alle fragten sich, ob es nicht doch noch schneien würde. Schließlich verurteilte
die Strafkammer den alten Mann zu zwei Jahren auf Bewährung, und er wurde aus
der Haft entlassen.
Ich fragte mich, wo er Weihnachten verbringen würde, seine Wohnung war
gekündigt worden, und er hatte niemanden, zu dem er konnte. Ich stand auf einem
der oberen Gänge und sah ihn langsam die Treppe hinuntergehen.
Am
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