von Schirach
Schlimmste war
der weiße Staub, der alles dünn überzog. Hassan hatte dem alten Mann das Risiko
erklärt, aber es war ihm egal. Er hatte nichts zu verlieren. Es war ein gutes
Geschäft, und er hatte sowieso nie gekocht. Er zog an der Zigarette und sah in
den Himmel: Keine Wolke, es würde bis zum Abend noch heißer werden.
Die Polizisten hörte er erst, als sie die Tür einschlugen. Es ging
schnell, und es hatte keinen Sinn, sich zu wehren. Er wurde zu Boden gerissen,
fiel über den Küchenstuhl und brach sich zwei Rippen. Dann schrien sie ihn an,
er solle sagen, wo die Araber seien. Weil sie so laut waren, sagte er nichts.
Und weil ihm die Rippen wehtaten. Auch später beim Ermittlungsrichter würde er
schweigen, er war zu oft im Gefängnis gewesen, und er wusste, dass es zu früh
war, um zu reden, sie würden ihn jetzt nicht gehen lassen.
Der alte Mann lag auf seinem Bett, Zelle 178, Haus C der
Untersuchungshaftanstalt. Er hörte den Schlüssel, und er wusste, dass er jetzt
etwas zu der Beamtin sagen musste oder nicken oder den Fuß bewegen, sie würde
sonst nicht gehen. Sie kam jeden Morgen um 6:15 Uhr, sie nannten das
»Lebendkontrolle«, sie sahen nach, ob einer der Gefangenen in der Nacht
gestorben war oder sich selbst getötet hatte. Der alte Mann sagte, es sei alles
in Ordnung. Die Beamtin hätte auch seine Post mitgenommen, aber er hatte
niemanden, dem er schreiben konnte, und sie fragte nicht mehr danach. Als er
wieder allein war, drehte er sich zur Wand. Er starrte die hellgelbe Ölfarbe
an, die Wände waren zu zwei Dritteln so gestrichen, darüber ein Streifen Weiß,
die Böden hellgrau. Alles hier sah so aus.
Er hatte schon beim Aufwachen daran gedacht, dass heute ihr Hochzeitstag
war. Und jetzt dachte er wieder an den Mann, der mit seiner Frau schlief, mit
seiner Frau.
Alles hatte mit dem Unterhemd begonnen. Er erinnerte sich an den
Sommerabend vor 22 Jahren,
er hatte es unter dem Bett gefunden. Es hatte dort gelegen, zerknüllt und
irgendwie schmutzig. Es war nicht sein Unterhemd gewesen, obwohl seine Frau ihm
das dauernd gesagt hatte. Er hatte gewusst, dass es dem anderen gehörte. Danach
war nichts mehr wie früher gewesen. Am Ende hatte er damit seine Schuhe
geputzt, aber das hatte auch nichts geändert, und irgendwann hatte er ausziehen
müssen, sonst wäre er draufgegangen. Seine Frau hatte geweint. Er hatte nichts
mitgenommen, das Geld und das Auto und selbst die Uhr, die sie ihm geschenkt
hatte, hatte er zurückgelassen. Die Arbeit hatte er gekündigt, obwohl es eine
gute Arbeit war, aber er konnte nicht mehr hingehen, er konnte nichts mehr
ertragen. Er hatte sich jeden Abend betrunken, systematisch und stumm. Irgendwann
war es zur Gewohnheit geworden, und er war versunken in einer Welt aus Schnaps,
kleinen Straftaten und Sozialfürsorge. Er wollte nichts anderes. Er wartete
auf das Ende.
Aber heute war etwas anders. Die Frau, die mit ihm sprechen wollte, hieß
Jana, und dann folgte ein Nachname mit zu vielen Buchstaben. Sie sagten ihm,
es sei keine Verwechslung, sie habe einen Sprechschein beantragt, dafür
brauchte sie keine Erlaubnis von ihm. Also ging er zur festgesetzten Zeit in
den Besucherraum und setzte sich zu ihr an den Tisch, der mit einer grünen
Plastikfolie beklebt war. Der Beamte, der das Gespräch überwachte, saß in der
Ecke und versuchte nicht zu stören.
Sie sah ihn an. Er wusste, dass er hässlich war, Nase und Kinn waren seit
Jahren aufeinander zugewachsen, sie bildeten fast einen Halbkreis, er hatte
kaum noch Haare, die Bartstoppeln waren grau. Sie sah ihn trotzdem an. Sie sah
ihn an, wie ihn seit Jahren niemand mehr angesehen hatte. Er kratzte sich am
Hals. Dann sagte sie mit hartem polnischen Akzent, er habe schöne Hände, und er
wusste, dass sie log, aber es war in Ordnung, so wie sie es sagte. Sie war
schön. Wie die Madonna in der Dorfkirche, dachte er. Er hatte sie als Junge
immer während der Messe angestarrt und sich vorgestellt, dass Gott in ihrem
Bauch war und dass es ein Rätsel war, wie er da reingekommen war. Jana war im
siebten Monat, alles an ihr war rund und voller Leben und strahlend. Sie beugte
sich über den Tisch und berührte mit den Fingerspitzen seine eingefallene
Wange. Er starrte auf ihre Brüste, und dann schämte er sich dafür und sagte:
»Ich habe keine Zähne mehr.« Er versuchte zu lächeln. Sie nickte freundlich,
sie saßen zwanzig Minuten an dem Tisch und sprachen nicht mehr, kein einziges
Wort. Der Beamte kannte
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