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von Schirach

von Schirach

Titel: von Schirach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schuld
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24. Dezember
lag der alte Mann im Krankenhaus. Die Operation sollte erst am 2. Januar sein, aber die Klinik
hatte darauf bestanden, dass er direkt nach der Haftentlassung ins Krankenhaus komme,
sie befürchteten einen Alkoholrückfall. Der Sozialarbeiter hatte alles
organisiert, doch als der alte Mann es erfuhr, wollte er zuerst nicht. Aber
dann hörte er, dass »eine Jana«, wie der Sozialarbeiter sagte, seine neuen
Zähne in der Klinik bereits bezahlt habe. Und weil es von ihr kam, tat er so,
als sei das eine Verwandte, und willigte ein.
    Das Bett im Krankenhaus war sauber, er hatte sich geduscht und rasiert, und
sie hatten ihm einen Schlafanzugskittel mit gelbem Blumenmuster gegeben. Auf
dem Nachttisch stand ein Weihnachtsmann aus Schokolade. Seine Brust war
eingedrückt, und er sah merkwürdig schief aus. Ihm gefiel das, »er ist wie
ich«, dachte er. Er hatte etwas Angst vor der Operation, sie wollten ein Stück
Knochen aus seiner Hüfte nehmen, aber er freute sich auf die neuen Zähne, und
in ein paar Monaten würde er endlich wieder normal essen können. Als er
einschlief, träumte er nicht mehr von dem Unterhemd unter seinem Bett. Er
träumte von Jana, von ihren Haaren, ihrem Geruch und ihrem Bauch, und er war
glücklich.
     
    Etwa zwei Kilometer entfernt saß Jana auf dem Sofa und erzählte dem
schlafenden Baby die Weihnachtsgeschichte. Sie hatte Barszcz für Hassan
gekocht. Es war mühsam gewesen, aber sie konnte das, ihre Mutter hatte nach dem
Tod ihres Vaters die kleine Familie damit über Wasser gehalten, damals in
Karpacz im südwestlichen Polen. Barszcz aus Rinderbrust und Roter Bete für die
Touristen, die über den Berg wanderten und hungrig waren, das war ihre
Kindheit. Ihre Mutter stand jeden Tag mit ihren Töpfen und Bunsenbrennern
draußen in der Kälte bei den anderen Frauen, und sie hatten das ausgepresste
Gemüse hinter sich in den Schnee geworfen. Jana erzählte dem Baby von dem roten
Schnee, den man schon von Weitem sah, und dem feinen Geruch der Suppe und der
Gasbrenner. Sie dachte an ihr Dorf dort in den Bergen, an ihre Familie, und sie
erzählte von Weihnachten, den gelben Lichtern und gebratenen Gänsen und von
Onkel Malek, der die Bäckerei besaß und heute sicher wieder den größten Kuchen
gebacken hatte.
    Hassan würde nicht wiederkommen, sie wusste es. Aber er war bei ihr
gewesen, als das Baby kam, er hatte ihre Hand gehalten und den Schweiß von
ihrer Stirn gewischt. Erwar ruhiggeblieben, als sie schrie, er war immer ruhig,
wenn es drauf ankam, und sie glaubte, dass ihr nichts passieren würde, solange
er da war. Aber sie hatte auch immer geahnt, dass er gehen würde, er war viel
zu jung. Sie konnte nur in Ruhe leben, wenn sie ihn aus der Ferne liebte.
Plötzlich war sie einsam, ihr fehlten das Dorf und ihre Familie, sie vermisste
das alles so sehr, dass es schmerzte, und sie beschloss, am nächsten Morgen
den Zug nach Polen zu nehmen.
     
    Hassan fuhr durch die Stadt. Er konnte nicht zu ihr, er wusste nicht, was
er sagen sollte. Er war einer anderen Frau im Libanon versprochen, er musste
sie heiraten, seine Eltern hatten es so bestimmt, als er noch ein Kind war.
Jana war eine gute Frau, sie hatte ihn vor dem Gefängnis gerettet, sie war
klar und einfach in allen Dingen. Langsam wurde er wütend, wütend auf sich und
seine Familie und auf alles andere. Und dann sah er ihn.
    Der Mann kam gerade aus einem Geschäft, er hatte noch letzte Geschenke
gekauft. Er schuldete Hassan 20000 Euro und war einfach verschwunden. Hassan suchte ihn
seit Wochen. Er ließ den Wagen stehen, nahm den Hammer aus dem Handschuhfach
und folgte dem Mann bis in den Eingang eines Hauses. Er packte ihn an der Kehle
und stieß ihn gegen die Wand, die Tüten fielen zu Boden. Der andere sagte, er
wolle doch bezahlen, es ginge nur nicht so schnell. Er bettelte. Hassan hörte
ihn nicht mehr, er starrte auf die Geschenkpäckchen, die im Hausflur lagen, er
sah die aufgedruckten Weihnachtsmänner und die goldenen Geschenkbänder, und
plötzlich war alles gleichzeitig in seinem Kopf: Jana und das Baby, die Hitze
des Libanons, sein Vater und seine zukünftige Ehefrau, und dann wurde ihm klar,
dass er nichts an all dem mehr ändern konnte.
    Es dauerte viel zu lange, und später sagte ein Nachbar, er habe zwischen
den Schreien das Klatschen gehört, nass und dumpf, wie beim Fleischer. Als
die Polizei Hassan endlich vom Oberkörper des Mannes ziehen konnte, war der
Mund des anderen eine blutige Masse: Hassan hatte ihm mit

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