Von Traeumen entfuehrt (eShort)
graut es einem jeden Revenant, und genau das ist auch der Grund, weshalb bardia , die in kleinen Städten wohnen, nach jedem ihrer Tode umziehen müssen. Und in einer Stadt mit zweieinhalb Millionen Einwohnern sollte das auch nicht passieren! Deshalb lernen wir ja auch die Sterblichen in unserer Nachbarschaft nicht näher kennen. Deshalb befreunden wir uns ganz allgemein nicht mit Sterblichen (mal von vorübergehenden Beziehungen abgesehen, aber das ist ja was anderes, die sind eben … vorübergehend). Denn wenn ein Mensch mitansieht, wie einer von uns stirbt, und uns dann wiedererkennt, wenn wir quasi wiederauferstanden sind, sitzen wir nämlich ziemlich tief in der Scheiße.
Aber Vincent hat sich mit einer Sterblichen angefreundet. Einer Sterblichen, die meinen tödlichen Unfall gesehen hat. Und jetzt sitzt besagte Sterbliche am anderen Ende dieses Ausstellungsraums und starrt mich ungläubig an, ihr Mund steht offen. Sie verlässt die Bank und kommt auf mich zu. »Jules!«, sagt sie, ihre Stimme ein Quietschen, weil sie ihren Augen nicht traut. Nach genau einer Schocksekunde gelingt es mir, mein Gesicht zu einer Maske werden zu lassen.
»Hallo«, sagte ich und lege den Kopf leicht schief. »Kennen wir uns?«
»Jules, ich bin’s, Kate. Ich war mit Vincent bei dir im Studio, erinnerst du dich nicht daran? Und ich habe dich in der Metrostation gesehen. Vor dem Unfall.«
Ich lächle sie an, wie man jemanden anlächelt, mit dem man Mitleid hat. »Es tut mir sehr leid, aber Sie müssen mich verwechseln. Ich heißt Thomas und ich kenne niemanden, der Vincent heißt.«
Kate macht noch einen Schritt auf mich zu, Wut funkelt in ihren Augen. »Jules, ich weiß, dass du es bist. Du hattest einen fürchterlichen Unfall … Das ist gerade mal vier Wochen her.«
Ich zucke mit den Schultern und schüttle den Kopf.
»Jules, erklär mir doch bitte, was hier vor sich geht«, beharrt sie.
Allmählich erregen wir Aufmerksamkeit. Ich muss deeskalieren, bevor Kate sich an diesem nicht gerade menschenleeren Ort in einem ausgewachsenen Wutanfall reinsteigert. Bloß, was soll ich tun? Ich kann ihr ja schlecht die Wahrheit sagen. Und ganz offensichtlich durchschaut sie meine spontane Theatervorstellung. Sanft fasse ich sie am Arm und führe sie zurück zu der Bank. »Sie sollten sich setzen. Sie wirken ein wenig verwirrt. Oder verunsichert.«
Kate reißt sich los. »Ich weiß, dass du’s bist. Ich bin doch nicht verrückt. Aber ich verstehe nicht, was hier los ist. Und ich habe Vincent vorgeworfen, er sei herzlos, weil ihn dein Tod kalt gelassen hat. Und jetzt stehst du lebendig vor mir.«
Sie schreit mittlerweile und ich spüre, wie mir der Schweiß auf der Stirn steht. Alle Anwesenden habe ihre Blicke auf uns gerichtet. Ein Museumswärter kommt mit forschen Schritten auf uns zu. »Gibt es hier ein Problem?«
»Nein, kein Problem. Diese junge Dame hat mich nur mit jemandem verwechselt.«
»Hab ich nicht!«, zischt sie und stampft mit dem Fuß auf den Boden wie ein kleines, trotziges Kind. Dann dreht sie sich um und verlässt zornig das Museum. Ich zucke nur hilflos die Schultern, doch der Wärter hat die Angelegenheit längst abgehakt und interessiert sich nicht mehr für mich. Kaum ist er weg, stürme ich hinaus, renne die vielen Stufen hinunter und laufe zu meinem Wagen, den ich in der Rue Rambuteau abgestellt habe. Ich weiß genau, wohin sie jetzt des Wegs ist: Vincent war dumm genug, sie nach meinem Tod zu uns nach Hause zu bringen. Weil er sie nur in La Maison hätte beruhigen können, angeblich. Wenn sie die Metro nimmt, muss ich wirklich eine Rekordzeit hinlegen, um vor ihr dort anzukommen.
Das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass JB sie noch am Tor abwimmelt , denke ich. Aber ich habe ein ziemlich ungutes Gefühl bei dieser ganzen Sache. Vincent ist volant . Wenn Kate darauf besteht, ihn zu treffen, können wir erst morgen Nachmittag mit einem Vincent aufwarten, der sich bewegen und sprechen kann. Und Kate sah wildentschlossen aus, als sie aus dem Museum marschiert ist. Sie gehört nicht gerade zu der Fraktion Mensch, die schnell aufgibt.
Der Pariser Verkehr arbeitet in diesen wirklich entscheidenden Minuten gegen mich. Als ich endlich durch die Haustür rausche, diskutiert Jeanne gerade mit JB über einen jungen Gast, von dem er behauptet hatte, er würde im Wohnzimmer mit einer Nachricht für Vincent warten.
Das Wohnzimmer ist jetzt natürlich leer, abgesehen von einem handschriftlichen Brief, der Kates
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