Von Traeumen entfuehrt (eShort)
davon, dass sie dich verlassen. Und in deinem Fall trifft das ja sogar zu. Damit bist du drumherum gekommen, das Arschloch zu sein.
»Und wenn es doch einen Weg gibt?«, stellt er in den Raum und pflückt das Baguettestückchen in seiner Hand noch weiter auseinander.
Gibt es aber nicht , sage ich. Abgesehen von den wirklich extrem seltenen Fällen, von denen man ab und zu bei den internationalen Treffen des Konsortiums hört. Eine Handvoll Geschichten von anno dazumal. Aber mal ehrlich, willst du das wirklich? Die werden immer älter, während du immer jung bleibst. Das ist doch nicht normal.
»Wir sind nicht normal«, sagt Vincent, seine Stimme kalt wie Eis.
Ich gehe nicht darauf ein. Davon mal ganz abgesehen hat Jean-Baptiste es allen französischen Anverwandten verboten. Du bist sein Stellvertreter, das heißt, bis du ihn ablöst, gilt, was JB sagt.
Darauf erwidert Vincent erst mal nichts, aber ich bin mir sicher, dass meine Worte an seiner Einstellung nichts geändert haben. In den folgenden Wochen schleicht er wie ein Nervenbündel umher, beobachtet Kate aus der Ferne. Er wagt sich nie so nah an sie heran, dass sie ihn bemerken könnte. Und er achtet darauf, dass keiner von uns den Eindruck bekommt, er würde sie stalken. Dabei entgeht mir keineswegs, wie gern er sie sehen will. Und wenn er dann wirklich mal einen Blick auf sie erhascht, sei es im Café oder auf ihrem Heimweg von der Metrostation, dann wirkt er mit einem Mal vollkommen ruhig und zufrieden. Und als gäbe es diese Ruhe für ihn nur, wenn er weiß, dass sie in Sicherheit ist. Das macht mich total wahnsinnig. Ich ahne, dass das ein böses Ende nehmen wird, aber mehr kann ich dazu jetzt nicht sagen. Und davon mal ganz abgesehen, habe ich gerade andere Sorgen.
Ich bin nämlich immer über Wochen nach so einem Tod fürchterlich launisch. Nachdenklich. Dann erinnere ich mich an all meine bisherigen Tode, google sämtliche Leute, die ich gerettet habe und schaue, ob sie noch leben und wie es ihnen geht. Von allen geretteten Sterblichen ist und bleibt einer jedoch der wichtigste. Der Allererste, für den wir unser Leben gegeben und wegen dem wir bardia geworden sind. Mein Erster ist schon lange tot – vor über einem halben Jahrhundert gestorben. Aber man kann immer noch Spuren von ihm finden, in so ziemlich allen Museen dieser Welt. Und es tröstet mich, ein paar seiner Meisterwerke anzuschauen, die er erst nach meinem Tod gemalt hat. Die Hälfte von Fernand Légers Lebenswerk würde nicht existieren, wenn ich ihm damals nicht meine Atemschutzmaske gegeben und an seiner Stelle gestorben wäre.
Ein ganz bestimmtes seiner Bilder, Das Kartenspiel , besuche ich besonders gern, hauptsächlich, weil ich darauf abgebildet bin – das gebe ich ganz offen zu. Außerdem hat es seinen Platz am anderen Ende der Stadt im Musée d’Art Moderne. Und weil jetzt sicher ein Monat seit meiner Reanimation vergangen ist, mache ich mich auf meine übliche Pilgerreise dorthin.
Auf dem Gemälde sind Soldaten beim Kartenspiel zu sehen – Soldaten, von denen Léger gesagt hat, sie gehörten seinem Bataillon an. Meine Pfeife ist darauf sehr gut zu erkennen, aber er hat mein Gesicht verfremdet. Es sieht aus wie das Skelett eines Roboters. Er hat mich als Abbild des Todes gezeichnet, kurz nachdem ich für ihn gestorben war. Die dargestellte Szene versetzt mich immer in diese Zeit zurück, in die schier endlosen Nächte, in denen wir Karten gespielt haben, während wir darauf warteten, dass die nächsten Feinde Granaten in unsere Schützengräben warfen. Die Karten waren das einzige, was uns von unserer ungewissen/bedrohten menschlichen Existenz ablenken konnte.
Mittlerweile ist der Tod kein beunruhigendes Thema mehr für mich. Vielmehr sehne ich mich nun danach. Ich begrüße ihn sogar. Weil er dafür sorgt, dass ich unsterblich bleibe. Léger hat uns alle als Roboter dargestellt – entbehrlich und schnell austauschbar –, dabei schützt uns der stählerne Panzer, den er uns allen als Haut gegeben hat, sogar noch nach dem Tod. Weil er uns fast unzerstörbar macht. Ich weiß, dass die Kriege Léger nachhaltig beeinflusst haben, wie eigentlich jeden Menschen in Europa. Er jedoch hat uns eindrucksvolle Zeugnisse seiner Kriegsverletzungen hinterlassen.
So, jetzt reicht’s. Bis zu meinem nächsten Tod habe ich erst mal wieder genug vom Kartenspiel . Ich wende mich von dem Gemälde ab und erstarre. Mein Herz schlägt wie eine Basstrommel.
Vor einer solchen Situation
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