Von Traeumen entfuehrt (eShort)
Gedanken unausgesprochen.
»Du bist immer noch in Ambrose verliebt«, sage ich, weil ich genau weiß, wovon sie redet.
Charlotte beißt sich auf die Lippe. Ihre smaragdgrünen Augen passen farblich perfekt zu den in Labyrinthform geschnittenen Hecken vor dem Hôtel de Sens. Während wir es passieren, lässt Charlotte den Blick über den penibel gepflegten Garten des mittelalterlichen Palasts schweifen. Sie seufzt.
»Warst du schon mal verliebt, Jules? Nicht, seit ich dich kenne, soviel weiß ich. Aber vielleicht davor?«
Ich schüttle den Kopf. »Nein«, antworte ich. Und kaum habe ich das Wort ausgesprochen, erscheint Kates Gesicht vor meinem inneren Auge. Ihre wunderschöne rosige Haut, ihre tiefseeblauen Augen. Ich verbanne das Bild aus meinem Kopf, wuschle Charlotte durch das kurze blonde Haar und lege ihr dann den Arm um die Schultern. »Nein, Char, ich war noch nie verliebt.«
Als Vincent seine Zimmertür öffnet, zögert Charlotte kurz, doch dann legt sie ihm vorsichtig die Arme um den Hals zu einer tröstenden Umarmung. »Vincent, du kannst dich nicht einfach hier verkriechen. Du musst was essen. Du siehst ja fürchterlich aus.«
Und sie hat recht. Vincents Gesicht ist eingefallen, insgesamt ist er schmal geworden. In den vergangenen Wochen hat er viel Gewicht verloren, dunkle Ringe prangen unter seinen Augen.
»Wir müssen dir etwas erzählen«, sagt Charlotte und gibt dann die Unterhaltung wieder, die sie belauscht hat.
Vincent ist sofort wie ausgewechselt. So schnell, als hätte man ein brennendes Streichholz in eine Kerosinpfütze fallen lassen, liegt ein Funkeln in seinen Augen. Er hat wieder eine Aufgabe. »Sie braucht mich«, mehr sagt er nicht. Dann geht er zu Gaspard und bittet ihn darum, jedes noch so kleine Dokument über eine Beziehung zwischen einem sterblichen Menschen und einem bardia aufzuspüren, das sich in seiner Bibliothek verbergen könnte. Vincent ist wildentschlossen, eine Lösung zu finden. Einen Weg, wie es funktionieren könnte. Da Kates Hauptproblem darin liegt, Vincent sterben zu sehen, liegt der Ausgangspunkt der Suche auf der Hand: Vincent muss eine Möglichkeit finden, das Sterben zu umgehen.
»Wie kann ich helfen?«, frage ich Vincent.
»Sorg einfach dafür, dass ihr nichts passiert«, antwortet er. Ich spreche mit Ambrose und Charlotte ab, dass wir, wenn wir auf Patrouille sind, immer einen Schlenker zu ihrer Wohnung machen, um regelmäßig nach dem Rechten zu sehen. Oder aber in der Nähe der Rue du Bac Metrostation zu sein, wenn sie auf dem Weg zur Schule ist oder von dort zurückkehrt. Und jeden Abend gegen halb elf unterbricht Vincent, was immer er gerade macht, stellt sich in den Park gegenüber von Kates Fenster und schaut hinauf, bis sie das Licht löscht und er einmal mehr weiß, dass sie sicher in ihrem Bett ist.
Dabei befindet sie sich ja gerade nicht in Gefahr. Aber Vincent möchte einfach über sie informiert sein. Leider ist jedoch so ziemlich das Einzige, was wir ihm berichten können, dass sie sich wieder in das traurige Mädchen zurückverwandelt hat. Ich halte es nicht aus, sie so zu sehen. Wie ein Roboter geht sie mechanisch zur Schule und geht Tag für Tag mit demselben leeren Gesichtsausdruck heim. Ich möchte sehen, wie der Glanz in ihre Augen zurückkehrt. Wie ihre Wangen wieder vor Freude glühen.
Es ist offensichtlich, wie sehr sie Vincent vermisst. Sie wird erst wieder glücklich sein, wenn er eine Möglichkeit gefunden hat, wie sie zusammen sein können. Ich merke, dass ich mir wünsche, derjenige zu sein, der das für sie vollbringen kann. Der ihr wieder ein Lächeln ins Gesicht zaubert. Aber ich vertreibe diese Gedanken, als wären sie lästige Mücken. Wieso zerbreche ich mir den Kopf über die Herzensdame meines besten Freundes? Ich verleugne meine Gefühle für sie, weil ich sie nicht haben kann.
Ich verbringe immer mehr Zeit allein, zeichne und male. Schalte den Verstand aus und überlasse es dem Pinsel, meine Gefühle auszudrücken. Eines Abends bin ich in meinem Zimmer in La Maison und arbeite an der Skizze einer Frau, die auffallende Ähnlichkeit mit Kate besitzt, als Vincent fast panisch hereinstürzt. Ich lege das Blatt verkehrt herum hin und den Bleistift obendrauf.
»Sie hat mich gesehen. Mit Geneviève. Und … Jules, dieser Gesichtsausdruck!«, keucht er.
»Wer? Kate?«, frage ich.
»Natürlich Kate! Wer denn sonst?« Er holt tief Luft und fängt von vorn an. »Ich habe mich mit Geneviève auf einen Kaffee im La Palette
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