Von wegen Liebe (German Edition)
Moment auch.
Ich dachte an Cathy Earnshaw, die verwöhnte, egoistische Protagonistin aus Sturmhöhe , und erinnerte mich an den Absatz, den ich gelesen hatte, bevor es an der Tür geklingelt hatte. Aber als ich die Worte jetzt noch einmal im Kopf wiederholte, klangen sie ein kleines bisschen anders.
Meine Liebe zu Toby ist wie das Laub im Walde: Die Zeit wird sie ändern, ich bin mir dessen bewusst, wie der Winter die Bäume verändert. Meine Liebe zu Wesley gleicht den ewigen Felsen dort unten; sie ist eine Quelle kaum wahrnehmbarer Freuden, aber sie ist notwendig notwendig.
Ich wiegte mich weinend vor und zurück. Zuneigung , korrigierte ich mich. Meine Zuneigung für Wesley ist blablablablabla. Ich wischte mir mit dem Ärmel meines Sweatshirts übers Gesicht, stand auf und versuchte, mich zu beruhigen. Dann drehte ich mich um und ging in mein Zimmer.
Auf einmal wollte ich wissen, wie die Geschichte zu Ende ging.
SECHSUNDZWANZIG
Ich las die ganze Nacht – legte währenddessen mindestens zehnmal die Wäsche am Fußende meines Betts neu zusammen – und fand schließlich heraus, dass Sturmhöhe kein Happy End hatte. Wegen der blöden, verwöhnten, selbstsüchtigen Cathy (ja, ich konnte selbst ganz still sein, aber trotzdem) sind am Ende alle unglücklich. Ihre Entscheidung zerstört das Leben der Menschen, die sie am meisten liebt. Weil sie Schicklichkeit vor Leidenschaft stellt. Kopf vor Herz. Linton vor Heathcliff.
Toby vor Wesley.
Das, schloss ich, als ich meinen müden Hintern am nächsten Morgen in die Schule schleppte, war kein gutes Omen. Normalerweise glaubte ich nicht an Omen oder Zeichen oder sonst etwas von diesem esoterischen Psychokram, aber die unheimlichen Parallelen in meiner und Cathy Earnshaws Biografie waren zu offensichtlich, um sie zu ignorieren. Ich kam also nicht drum herum, mich zu fragen, ob mir das Buch etwas sagen wollte.
Ich war mir zwar halbwegs im Klaren darüber, dass ich zu viel in die Sache hineininterpretierte, aber der Schlafmangel in Kombination mit all dem anderen Stress ließ mein Hirn interessante Verknüpfungen herstellen. Interessant, aber nicht produktiv.
Ich war ein ziemlicher Zombie an dem Tag, aber während der Mathestunde passierte etwas, das mich wachrüttelte.
»Hast du das von Vikki gehört?«
»Dass sie schwanger sein soll? Ja. Heute Morgen.«
Mein Verstand ließ sofort von der Aufgabe ab, die ich gerade halbherzig zu lösen versuchte hatte, und wandte sich den beiden Mädchen in der Reihe vor mir zu, deren Namen ich mir nie merken konnte, weil ich beide so dämlich fand.
»Was für eine Schlampe«, zischte die eine. »Sie weiß angeblich noch nicht mal, wer der Vater ist. Kein Wunder. Sie geht ja auch mit jedem ins Bett.«
Ich gebe es nicht gern zu, aber mein erster Gedanke galt nicht der armen Vikki, sondern mir. Genauer gesagt Wesley. Er hatte Vikki zwar neulich eine Abfuhr erteilt, aber was, wenn er seine Meinung geändert hatte? Wenn der Liebesbrief nur ein Scherz gewesen war? Ein mieses Spiel, um mich fertigzumachen? Was, wenn er und Vikki …
Ich zwang mich zur Ruhe. Wesley war vorsichtig. Er hatte bei mir immer ein Kondom benutzt. Und es stimmte, was die beiden gesagt hatten – Vikki schlief mit jedem. Die Chancen, dass Wesley sie geschwängert hatte, waren gering. Außerdem stand es mir sowieso nicht zu, mir den Kopf darüber zu zerbrechen. Er war nicht mein Freund. Auch wenn er mir in einem Brief ziemlich deutlich seine Liebe gestanden hatte. Ich war mit Toby zusammen, und was Wesley machte, ging mich nichts an.
Erst dann dachte ich an Vikki. Siebzehn, kurz vor dem Highschool-Abschluss und, wenn die Gerüchte stimmten, schwanger. Was für ein Albtraum. Und jeder wusste davon. Ich hörte, wie in den Gängen darüber getuschelt wurde, als ich aus der Mathestunde kam. In einer Schule, die so klein war wie die Hamilton High, dauerte es keinen halben Tag, bis Gerüchte die Runde gemacht hatten. Vikki McPhee war das Topthema.
Auch für mich.
Deswegen kostete es mich auch einige Mühe, sie nicht anzustarren, als ich ein paar Minuten vor dem Englischkurs aus der Toilette kam und sie mit einem dunkelrosa Lippenstift bewaffnet vor dem Spiegel stehen sah.
Aber ich musste zumindest irgendwas sagen. Wir standen uns zwar nicht besonders nah, saßen aber immerhin jeden Tag in der Cafeteria zusammen an einem Tisch. »Hey«, murmelte ich.
»Hey«, antwortete sie und zog routiniert ihre Lippen nach.
Ich drehte den Wasserhahn auf, schaute in den Spiegel
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