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Von Zweibeinern und Vierbeinern

Von Zweibeinern und Vierbeinern

Titel: Von Zweibeinern und Vierbeinern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Herriot
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etwas Ähnliches auch Jimmy einmal zugestoßen war. Es war nicht ganz so schrecklich gewesen, weil der Gang, in dem er spielte, einen Ausgang zum Feld hin hatte. Er saß nicht in der Falle, als die Kuh, die ich verarztete, sich losriß und auf ihn zu rannte. Ich hatte nichts sehen können, ich hörte nur einen durchdringenden Schrei, bevor ich um die Ecke bog. Erleichtert sah ich dann, daß Jimmy quer über das Feld auf meinen Wagen zu lief, während die Kuh in eine andere Richtung davontrottete.
    Die Reaktion war typisch für Jimmy, denn er war der lauteste in der Familie. Wenn er irgendwie unter Druck stand, machte er seinen Gefühlen durch lautes Schreien Luft. Kam zum Beispiel Dr. Allinson, um ihn zu impfen, schrie er bei der Spritze auf: »Au! Das tut weh! Au! Au!« In unserem Doktor hatte er einen verwandten Geist. Auch er brüllte dann nämlich: »Ja! Du hast recht! Es tut weh! Oooh! Aaah!« Unseren Zahnarzt versetzte Jimmy regelrecht in Panik, denn er schrie und tobte auch weiter, wenn er betäubt wurde. Selbst wenn er Lachgas bekam, stieß er lange, zitternde Klagelaute aus, und dem armen Mann brach der Angstschweiß aus.
    Auch auf dem Rückweg öffnete Rosie mir mit ernstem Gesicht die drei Tore. Dann saß sie neben mir und sah mich erwartungsvoll an. Ich wußte, was sie wollte – sie wünschte, daß wir unser Spiel spielten. Sie liebte es, ausgefragt zu werden, so wie Jimmy es geliebt hatte, mich auszufragen.
    Ich übernahm meinen Part und begann. »Sag mir die Namen von sechs blauen Blumen.«
    Sie errötete vor Zufriedenheit, denn natürlich wußte sie die Namen. »Feldräude, Glockenblume, Vergißmeinnicht, Akelei, Ehrenpreis, Storchschnabel.«
    »Kluges Mädchen«, sagte ich. »Warte mal... wie ist es mit den Namen von sechs Vögeln?«
    Wieder das Erröten und dann die schnelle Antwort. »Elster, Brachvogel, Drossel, Regenpfeifer, Goldammer, Krähe.«
    »Sehr gut! Und jetzt nenne mir sechs rote Blumen.« Und so ging es weiter, Tag für Tag, mit vielen Variationen. Es war mir damals nur halb bewußt, wie glücklich ich war. Ich hatte einen anstrengenden Beruf, rund um die Uhr, und doch konnte ich meine Kinder bei mir haben. Wie viele Männer müssen hart arbeiten, um ihre Familien zu ernähren, und verlieren darüber den Kontakt zu ihren Lieben. Ich hatte es da besser.
    Sowohl Jimmy wie Rosie verbrachten ihre Zeit – jedenfalls bis sie zur Schule kamen – fast immer mit mir auf den Bauernhöfen. Als Rosies erster Schultag näherkam, entwickelte meine immer schon so besorgte kleine Tochter geradezu mütterliche Züge. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie ich ohne sie zurechtkommen sollte, und machte sich mit ihren fünf Jahren regelrecht Sorgen deshalb.
    »Daddy«, sagte sie ernst. »Wie wirst du es schaffen, wenn ich in der Schule bin? Alle Tore öffnen und alles selbst aus dem Wagen holen... Es wird schrecklich für dich werden.«
    Ich versuchte, sie zu beruhigen. »Ich weiß, Rosie, ich weiß. Ich werde dich vermissen, aber ich werde schon irgendwie zurechtkommen.«
    Ihre Reaktion war immer dieselbe. Ein erleichtertes Lächeln und dann die tröstenden Worte: »Aber sonnabends und sonntags werde ich immer bei dir sein, Daddy. Dann hast du es leichter.«
    Ich glaube, es war ganz natürlich, daß meine Kinder, die von früh auf meine Arbeit als Tierarzt und meine Freude an diesem Beruf miterlebt hatten, nie daran dachten, etwas anderes zu werden als Tierarzt.
    Bei Jimmy war das kein Problem. Er war ein zäher kleiner Bursche und würde die Stöße und Schläge, die man in unserem Beruf einstecken muß, hinnehmen können. Aber irgendwie konnte ich mich nicht an den Gedanken gewöhnen, daß meine kleine Tochter gestoßen und getreten und niedergeworfen und mit Dreck beschmutzt wurde. Eine Tierarzt-Praxis war ein harter Job damals. Es gab noch keine Metallklemmen, mit denen man tobende Tiere in Schach halten konnte, und es gab noch sehr viele Ackergäule, und sie brachten so manchen von uns Tierärzten mit gebrochenen Beinen oder Rippen ins Krankenhaus. Rosie hatte sehr deutlich gesagt, daß sie auf dem Land praktizieren wolle, aber mir schien das mehr eine Aufgabe für einen Mann zu sein. Kurz gesagt, ich redete es ihr aus.
    Das paßte eigentlich gar nicht zu mir, denn ich bin nie ein strenger Vater gewesen und war immer der Meinung, daß Kinder ihren Neigungen folgen sollten. Aber als Rosie ins Teenageralter kam, ließ ich ihr gegenüber immer wieder finstere Andeutungen fallen und spielte vielleicht

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