Voodoo Holmes - Holmes auf Haiti. Novelle
Sterblichkeit?“
„ Dem Volk“, meinte die große Mutter. „Es sind Herrschaftssymbole.“
„ Jedenfalls glaube ich, wir sind hier auf der richtigen Spur.“
„ Ja, ich auch“, sagte die große Mutter, „aber sehen Sie, am Rand, auf der Innenseite der Lippen, ist es glatt, und diese glatten Stellen gehen zu weit in den Mund hinein. Entweder es war eine spitze Zunge, die da heraus guckte. Oder die Zunge war vielleicht aus einem anderen Material.“
„ Meinen Sie?“
„ Ja.“
„ Und, weiter?“
„ Nichts weiter. Ich beschreibe nur, was ich sehe“, sagte die große Mutter, die nun, seitdem sie hier unten waren, etwas überaus Methodisches ausstrahlte, fast etwas Professorales, überlegte Holmes, der seine Begleiterin forschend betrachtete.
„ Dann sage ich Ihnen, was Ihre Beschreibung in mir für Bilder auslöst“, schlug er vor.
„ Gut.“
„ Eine Metallzunge. Und Sie kennen das doch von Orgelpfeifen oder von einem Akkordeon, dass die Geräusche macht, wie es auch eine menschliche Zunge tut, wenn Luft darüber streicht. Stellen Sie sich einmal vor, es wären solche Zungen gewesen, und die hätten zumindest einen Laut hervorgerufen, was man ja von steinernen Zungen nicht sagen kann.“
„ Ja, das wäre möglich. Ist das nicht eine Frage, die man Sir Brian stellen müsste? Er ist Archäologe“, gab die große Mutter zu bedenken.
„ Und Fachidiot“, meinte Holmes. „Und Fachidiot.“
„ Warum sagen Sie das zweimal, Monsieur Holmes?“
„ Um es zu betonen.“
„ Ach, gut. Ich dachte, es spricht aus Ihnen ein Toter.“
„ Sehr witzig.“
„ Ja, haben Sie nicht erwartet, oder?“ lächelte sie verschmitzt. „Ich habe Humor, Monsieur.“
„ Faustdick hinter den Ohren, Madame. Faustdick“, sagte Holmes.
„ Sie betonen schon wieder.“
„ Ich weiß.“
Es war lustig, wie sie da standen. Sie mit ihren Augen ganz oben und Holmes, den Kopf im Nacken verdreht, guckte zu ihr hoch wie ein Hündchen.
Der dritte Kopf war wie die anderen. Oder zumindest beinahe.
„ Was ist der Unterschied zwischen den dreien?“ fragte Holmes, der ein Maßband mitgebracht hatte und nun benutzte. „Die Mundhöhle des ersten hat einen Durchmesser von 1 Meter 83, die zweite von 1 Meter 75 und die dritte von 1 Meter 67. Was halten Sie davon?“
„ Mathematik ist nicht meine Stärke.“
„ Es liegen jeweils acht Zentimeter zwischen den dreien. Oder anders gesagt, wenn man 1,83 durch 1,75 dividiert oder 1,75 durch 1,67 kommt man ziemlich auf das Gleiche. Es gibt hier entweder zufällige Übereinstimmungen, dann ist alles, was ich sage, Mist, oder durch Berechnung erkannte tatsächliche Verhältnisse, dann haben wir hier eine richtige Spur, Zusammenhänge zwischen diesen Dreien. Es sind also eher nicht zufällig erhaltene Köpfe von sagen wir 100, sondern sie standen zumindest in einer Reihe. Und das scheint mir sehr bedeutungsvoll zu sein.“
„ Vielleicht waren es Orgelpfeifen.“
„ Ja, eine gigantische Orgel, gebildet aus diesen Köpfen. Wenn es aber so war, wo blies hier der Wind durch, um Musik zu machen?“
„ Quer durch die Zungen.“
„ Könnte sein. Müsste man einen Orgelbauer fragen.“
„ Dann ist die Sache ja klar.“
„ Wie?“
„ Wenn Mr. Craddock zurück kehrt, gehen wir stracks zu einem Orgelbauer und lassen uns Metallzungen anfertigen, die 183, 175 und 167 cm Durchmesser haben.“
„ Sie sind verrückt.“
„ Nein, Monsieur Holmes. Nur konsequent. Man nennt mich nicht zufällig die große Mutter.“
Zwei Tage vergingen, bis man die Metallzungen fertig gestellt hatte. Die Schwierigkeit lag nicht darin, einen Orgelbauer zu finden, der die Maße nahm und die Order gab, noch den Metallgießer, der sie ausführte, sondern in den langen Diskussion, die sich zuvor über das Material entspann. Man hatte hier einerseits mit einem Mr. Benson zu tun, derzeitiger Eigentümer der Orgelbautraditionsfirma Benson & Benson in dritter Generation, der in einem ruhigen Tonfall, aber ohne dabei einmal auszusetzen, erklärte, dass man nicht einfach Metallzungen in die Öffnungen spannen könne, sondern ein Holzrahmen vonnöten sei. Welches Holz aber, und wie dick und wie gestaltet? Und wenn man Metallzungen nahm, welches Metall, und wie lang sollten die Zungen sein? Letztendlich wurde es dann das Holz, das Benson immer nahm, nämlich Kirsche. Und das Metall, das er immer verwendete, nämlich eine Eisen-Nickel-Legierung. All das kostete einen größeren Betrag, den
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