Voodoo
Sie waren auf einer Schotterstraße unterwegs, die über eine trockene, unfruchtbare Ebene führte, eine Steinwüste aus weißen Felsen und Geröll, dazwischen hin und wieder die Skelette verendeter Tiere, sauber abgefressen und von der Sonne weiß gebleicht. Weit und breit weder Bäume noch Büsche, nur Kakteen. Die Landschaft erinnerte Max an die Postkarten, die ihm Freunde von ihren Reisen aus Texas oder Arizona geschickt hatten.
Sie fuhren hinauf in die Berge, die keinerlei Ähnlichkeit hatten mit denen, die Max von zu Hause kannte. Er war in den Rockies gewesen und in den Appalachen, aber diese hier waren vollkommen anders. Diese Berge waren Anhäufungen brauner, toter Erde, die langsam, aber sicher, Windhauch für Windhauch, Regentropfen für Regentropfen, abgetragen wurde. Schwer vorstellbar, dass einst auf der ganzen Insel Regenwald gestanden, dass es in dieser real gewordenen Umweltkatastrophe einst Leben gegeben hatte, dass diese Insel einst der wirtschaftliche Eckpfeiler eines Weltreichs gewesen war. Er versuchte sich auszumalen, wie die Menschen, die in diesen Bergen lebten, aussehen mochten, und vor seinem inneren Auge erschien eine Mischung aus KZ-Überlebenden und hungernden Äthiopiern.
Aber er sollte sich irren.
Sie waren sicherlich nicht weniger arm, dennoch lebten die Leute auf dem Land ein klein wenig besser als die armen Teufel in der Stadt. Die Kinder hier waren zwar spindeldürr, aber sie hatten nicht die aufgeblähten Bäuche und den ausgehungerten, verzweifelten Blick ihrer Altersgenossen in Port-au-Prince. Die Dörfer, an denen sie vorbeifuhren, hatten keinerlei Ähnlichkeit mit den elenden Behausungen von Cité Soleil. Sie bestanden aus mehreren kleinen Hütten mit Strohdach und dicken, fröhlich bunt gestrichenen Wänden in Rot, Grün, Blau und Gelb oder Rot-Weiß. Selbst die Tiere schienen es hier besser zu haben, die Schweine sahen weniger wie Ziegen aus, die Ziegen weniger wie Hunde, die Hunde weniger wie Füchse, die Hühner weniger wie magersüchtige Tauben.
Die Straße wurde schlechter, und sie kamen nur noch im Schritttempo voran. Sie mussten anderthalb Meter tiefe Krater in der Straße umkurven, durch Schlaglöcher fahren und um Haarnadelkurven kriechen, falls ihnen jemand entgegenkam. Sie sahen kein einziges Auto, dafür einige Wracks, die bis aufs Blech ausgeweidet waren. Max fragte sich, was mit den Fahrern geschehen war.
Trotz der Klimaanlage, die im Wagen für eine angenehme Temperatur sorgte, konnte Max die Hitze draußen spüren, die aus dem hellblauen, wolkenlosen Himmel niederbrannte.
»Allain hat Ihnen nicht alles über die Arche Noah erzählt«, sagte Chantale. »Was bei der Einstellung, die Sie an den Tag gelegt haben, nicht weiter verwunderlich ist.«
»Finden Sie, ich bin zu weit gegangen?«
»Sie hatten beide recht«, sagte sie. »Natürlich ist es nicht richtig, aber schauen Sie sich doch hier um. Es gibt hier mehr Menschen als Lebensmittel.«
»Was hat er mir nicht erzählt?«
»Was hinter diesen Verträgen steckt. Diesen Kindern wird von Anfang an ununterbrochen eingebläut, wo sie herkommen und wer sie da rausgeholt hat. Sie werden nach Cité Soleil gefahren, nach Carrefour und in andere schlimme Gegenden. Man zeigt ihnen Menschen, die an Hunger und an Krankheiten sterben, und das nicht, damit sie Wohltätigkeit oder Mitgefühl lernen, sondern Dankbarkeit und Respekt. Damit sie lernen, dass die Carvers ihre Retter sind, dass sie denen ihr Leben zu verdanken haben.«
»Gehirnwäsche?«
»Nein, nicht ganz. Es gehört zur Ausbildung, sie lernen das Credo der Carvers zusammen mit ihren Verben und dem Stundenplan«, sagte Chantale. »Jedenfalls wird ihnen erfolgreich vermittelt, dass sie bei den Ärmsten der Armen im Slum enden werden, sollten sie je daran denken, die Arche zu verlassen.«
»Und wenn man ihnen dann mit siebzehn oder achtzehn den Vertrag vorlegt, verkaufen sie mit Freuden ihre Seele«, folgerte Max. »Und brauchen nur die Arche Noah gegen das Carver-Imperium einzutauschen.«
»So ist es.«
»Und wie sind Sie an Ihren Job gekommen?«
»Allain stellt gerne Leute von außen ein«, sagte sie. »Nur nicht bei den Dienstboten.«
»Aber dieser Vertrag, der ist im Ausland doch sowieso nicht durchzusetzen, oder? Sagen wir, Sie studieren in den USA und wollen dann doch lieber für JP Morgan arbeiten als für Gustav Carver, dann können die doch nichts dagegen tun.«
»Nein, können sie nicht, tun sie aber«, sagte sie mit leiser Stimme, als
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