Voodoo
soll unter einem Mapou-Baum in Gonaïves seinen Anfang genommen haben, wo die Sklaven dem Teufel ein we ißes Kind opferten, um sich im Gegenzug seinen Beistand für den Sieg über die französische Armee zu sichern. Unter demselben Baum war im Jahr 1804 Haitis Unabhängigkeit ausgerufen worden.
Kurz vor den Wasserfällen blieben sie am Ufer in der Nähe eines Mapou stehen. Max setzte den Korb ab, den er getragen hatte. Chantale öffnete ihn und holte einen kleinen purpurroten Samtbeutel heraus, dem sie vier Kerzenhalter aus Metall entnahm. Diese steckte sie in Form einer Raute entsprechend den vier Himmelsrichtungen in den Baumstamm. Gegen den Uhrzeigersinn steckte sie vier Kerzen in die Halter, eine weiße, eine graue, eine rote und eine lavendelfarbene. Sie holte ein Foto aus ihrem Portemonnaie, küsste es mit geschlossenen Augen und heftete es mit einer Reißzwecke in die Mitte des Arrangements. Dann goss sie sich aus einer kleinen durchsichtigen Glasflasche Wasser auf die Hand und rieb sich Hände und Arme ein, es roch nach Sandelholzlotion. Leise vor sich hin murmelnd, entzündete sie eine Kerze nach der anderen mit einem Streichholz, legte den Kopf in den Nacken, schaute hoch in den Himmel und streckte die Arme aus, die Handflächen nach oben gedreht.
Max trat ein paar Schritte zur Seite, um sie nicht zu stören. Er betrachtete den Wasserfall. Zur Linken strömte das Sonnenlicht durch eine Lücke in den Bäumen und malte einen riesigen Regenbogen in den Sprühnebel, der über dem Wasserfall hing. Auf den Felsen direkt unterm Wasserfall standen mehrere Menschen, das Wasser prasselte ihnen auf den Körper. Andere hielten sich etwas abseits, wo die Kaskade nicht ganz so mächtig war. Sie sangen und streckten die Hände in den Himmel, ungefähr so, wie Chantale es tat, einige schüttelten rasselartige Instrumente, andere klatschten in die Hände und tanzten. Alle waren nackt. Sobald sie sich den Felsen in der Nähe der Wasserfälle näherten, zogen sie ihre Kleider aus und ließen sie im Fluss stromabwärts treiben. Im Fluss selbst standen die Pilger bis zu den Hüften im Wasser und wuschen sich mit Kräutern und gelber Seife, die von mehreren Jungen am Flussufer aus Körben heraus verkauft wurde. Max fiel auf, dass einige Pilger in Trance waren. Sie standen reglos in Kreuzigungspose da, andere schienen besessen, ihr Körper bebte, der Kopf zuckte vor und zurück, sie rollten mit den weit aufgerissenen Augen, die Zunge schoss ihnen aus dem Mund, der unablässig in Bewegung war.
Chantale kam zu ihm und legte ihm eine Hand auf die Schulter.
»Das war für meine Mutter«, erklärte sie. »Wir machen das so, wenn jemand krank ist.«
»Wieso ziehen die sich aus?«, fragte Max mit einer Kopfbewegung in Richtung der Pilger.
»Das gehört zum Ritual. Zuerst entledigt man sich der Last des erlittenen Unglücks, das von den Kleidern symbolisiert wird, dann reinigt man sich im Wasserfall. Das ist eine Art Taufe. Nur dass die Leute hier ein großes Opfer bringen, wenn sie ihre Kleider wegwerfen. Das sind alles Menschen, die nicht sehr viel besitzen.«
Chantale ging mit einer leeren Flasche in der Hand zum Wasser hinunter.
»Sie gehen rein?«, fragte Max ungläubig.
»Sie etwa nicht?«, entgegnete sie mit einem Lächeln und einem vielversprechenden Blick in den Augen.
Die Versuchung war groß, aber er hielt sich zurück.
»Vielleicht beim nächsten Mal«, sagte er.
Sie kaufte einem der Jungen am Ufer ein Stück Seife und eine Hand voll Kräuter ab, dann watete sie durchs Wasser auf die dunklen Felsen und die blendend weißen Wassermassen zu, die auf die Steine einprasselten.
Bevor sie den Wasserfall erreichte, zog sie die Bluse aus und ließ sie in den Fluss fallen. Sie seifte sich das Gesicht und den nackten Oberkörper ein, dann kletterte sie auf einen Felsen. Dort zog sie sich bis auf den schwarzen String aus und warf erst die Jeans, dann die Schuhe ins Wasser.
Max konnte den Blick nicht von ihr wenden. Ohne Kleider sah sie sogar noch besser aus als in seiner Fantasie. Muskulöse Beine, flacher Bauch, kräftige Schultern, kleine, feste Brüste. Sie hatte den Körper einer Tänzerin – geschmeidig und grazil, ohne athletisch zu sein. Er überlegte, wie weit das an den Genen und wie weit am Sport lag. Aber dann fiel ihm auf, dass er sie anstarrte, und er riss sich aus seinen Gedanken.
Sie sah, dass er sie ansah, lächelte und winkte ihm zu. Er winkte zurück, ganz automatisch, wie ein Idiot, plötzlich wieder
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