Voodoo
paar flache Steine, da können Sie rüberkommen, ohne nasse Füße zu kriegen.« Er zeigte vage in die Richtung. »Wenn Sie überhaupt rüberwollen.«
»Was gibt’s denn da?«, fragte Max, ohne sich aus dem Schatten der Bäume herauszubewegen.
»Nur den französischen Friedhof.«
»Wieso französisch?«
»Weil da die französischen Soldaten begraben liegen. Napoleons Männer. Das ganze Land hier, das war mal eine Tabakplantage. Wo heute das Dorf ist, stand früher eine kleine Garnison. Eines Nachts haben sich die Sklaven erhoben und die Garnison eingenommen. Die Soldaten ha ben sie hergebracht, genau dahin, wo Sie jetzt stehen, zwischen den beiden Mapoux .
Sie haben sie einen nach dem anderen auf einem Vévé niederknien la ssen, das Baron Samedi gewidmet war – das ist der Gott des Todes und der Friedhöfe –, und haben ihnen die Kehlen aufgeschlitzt«, sagte er und fuhr sich mit einem schnalzenden Geräusch zur Untermalung mit dem Finger über die Kehle. »Das Blut haben sie aufgefangen und einen Trank draus gemacht, den alle getrunken haben. Dann haben sie die Uniformen der Soldaten angezogen, haben sich Gesichter und Hände weiß angemalt, damit man sie von weitem nicht erkennen konnte, sind losgezogen und haben jeden Weißen, der ihnen in die Finger fiel, ermordet, vergewaltigt und gefoltert, Männer, Frauen und Kinder. Und nicht einer von ihnen hat auch nur einen Kratzer davongetragen. Als sie fertig waren und frei, sind sie zurückgekommen und haben sich hier niedergelassen.«
Max betrachtete die Bäume und den Boden, auf dem er stand, als könnte da irgendetwas sein, das von ihrer Geschichte erzählte. Als er nichts Bemerkenswertes fand, ging er mit Chantale am Ufer entlang zu den Steinen, die über den Fluss führten.
Der Mann kam ihnen mit seinen Hunden entgegen. Max schätzte ihn auf ungefähr sein Alter, Mitte vierzig, vielleicht ein paar Jahre älter. Er hatte ein dunkles Mondgesicht und kleine Augen, die vor Heiterkeit blitzten, als hätte er soeben den besten Witz seines Lebens gehört und sich nur mit Mühe vom Lachkrampf erholt. Er hatte tiefe Falten auf der Stirn, feine Linien an den Mundwinkeln und silberne Stoppeln auf dem Kinn. Er sah kräftig und gesund aus, seine Arme waren dick, die Brust breit. Vielleicht war er in seiner Jugend professioneller Bodybuilder gewesen, dachte Max, und wahrscheinlich trainierte er noch heute, griff mehrmals die Woche in die Eisen, um die Flamme am Leben und sich das Fett vom Leib zu halten. Max war ihm noch nie begegnet, trotzdem war er ihm vertraut. Seine Haltung, seine Art zu sprechen, sein Körperbau und sein Blick verrieten ihn: ein Knastbruder.
Max hielt ihm die Hand hin und stellte sich und Chantale vor.
»Philippe mein Name«, sagte er lachend und zeigte ihnen die besten Zähne, die Max bisher bei einem Einheimischen gesehen hatte. Seine Stimme war heiser – aber nicht vom Schreien oder einer Entzündung, vermutete Max, sondern weil er sie selten benutzte, weil er niemanden hatte zum Reden oder demjenigen, mit dem er seine Zeit verbrachte, nicht mehr viel zu erzählen wusste. »Kommen Sie!«, sagte er voller Enthusiasmus. »Gehen wir zum Friedhof.«
Sie überquerten ein Feld und noch einen Wasserlauf, bis sie zu einem wilden Orangenhain kamen, dessen kräftiger, berauschender Duft bis zum Dorf hinüberdrang. Philippe umkurvte die Bäume und die süßlich faulenden Früchte, die von den Bäumen gefallen und ein Stück gerollt waren und sich auf dem Boden zu teils eckigen, teils runden Mustern zusammengefügt hatten. Es waren die größten Orangen, die Max je gesehen hatte, so groß wie Grapefruits oder kleine Honigmelonen, die Schale dick und stumpf, um den Stiel herum rötlich. Manche waren aufgeplatzt, das Fleisch rot gesprenkelt. Das Summen der zahllosen Fliegen, die sich an den Unmengen verfaulenden Fruchtfleisches gütlich taten, erfüllte die Luft.
Der Friedhof lag ein Stück weiter: ein großes, von hohem, dichtem Gras bewachsenes Rechteck mit großen, schlichten Grabsteinen – gerade und krumm –, eingefasst von einem hüfthohen Eisenzaun. An allen vier Seiten gab es ein Tor.
Die Soldaten waren Seite an Seite begraben worden, sechzig Leichname in fünf Reihen zu je zwölf. Die einzelnen Ruhestätten wurden von grauen Steinen markiert, die alle ungefähr gleich groß waren. In die glatt geschliffenen Oberflächen waren mit tiefen, kruden Großbuchstaben die Nachnamen eingemeißelt.
»Ich habe Ihnen nicht alles erzählt«, sagte
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