Voodoo

Sie trat sie beiseite.
    »Dann ist Ihre Mutter der …?«
    » Bokor , genau. Damit haben Sie nicht gerechnet, was? Dass hier eine Frau die Zügel in der Hand hält. Hier in diesem Land machen Frauen alles, nur nicht regieren. Wenn Frauen hier das Sagen hätten, wäre Haiti jetzt nicht mit Volldampf auf dem Weg in die Scheiße.« Philippe nickte.
    »Wo ist sie?«, fragte Max.
    »Nicht weit von hier.« Philippe nickte Richtung Osten und ging los, dann blieb er stehen, drehte sich um und sah Max in die Augen. »Seit wann sind Sie draußen?«
    »Und Sie?«, fragte Max zurück. Einen Exhäftling erkannte er stets verlässlich an der Spannung im Nacken und in den Schultern, an dem ständigen Alarmzustand, in dem sich der ganze Körper befand, jederzeit bereit, einen Angriff abzuwehren. Philippe war da ein Paradebeispiel, genau wie Max.
    »Vor zwei Jahren«, grinste Philippe.
    »Und Sie wurden hierher abgeschoben?«
    »Klar. Nur deshalb bin ich nicht im Leichensack rausgekommen. Ich war einer der Ersten, die rübergeschickt wurden. Ein Versuchskaninchen.«
    »Je einem Mann namens Vincent Paul begegnet?«
    »Nein.«
    »Wissen Sie, wer das ist?«
    »Ja. Klar.«
    Philippe winkte mit dem Daumen, damit sie sich wieder in Bewegung setzten, doch nach ein paar Schritten blieb er erneut stehen.
    »Falls Sie sich fragen sollten, was ich verbrochen habe: Es war Mord«, sagte er. »Ich hatte Ärger mit einem Typen, und das Ganze ist so eskaliert, dass es keinen anderen Ausweg mehr gab. Eines Tages bin ich zu ihm hin und habe ihn abgeknallt. Das Einzige, was ich bereue, ist, dass sie mich erwischt haben. Und Sie?«
    »Gleiche Liga«, sagte Max.

37
    Das Haus der Leballecs lag eine halbe Stunde vom Friedhof entfernt am Ende eines Feldwegs, der einen weiteren Wasserlauf überquerte, bevor er einen kurzen Abhang hinunter zu einem ebenen Grasstück mit Blick über die Wasserfälle führte. Nach dem Baumaterial hatte man nicht lange suchen müssen: Das robuste einstöckige Haus bestand aus dem gleichen Sandstein wie die Bauruine am Ortsrand von Clarinette.
    Philippe ließ sie zusammen mit den Hunden draußen warten, während er hineinging, um mit seiner Mutter zu sprechen.
    In der Ferne hörte Max das Donnern des Wasserfalls und musste an seine ersten Monate auf Rikers Island zurückdenken, als er praktisch nichts anderes mehr gehört hatte als das Wasser, das die Gefängnisinsel umgab. Eigentlich hätte das Rauschen beruhigend sein können und ihm ein Gefühl inneren Friedens vermitteln, aber es hatte das Gegenteil bewirkt. Es hatte ihn fast in den Wahnsinn getrieben. Er hätte schwören können, dass der Strom ihm etwas zuflüsterte, dass er aus seinen tiefsten Tiefen zu ihm rief. Und die ganze Zeit hatte er gewusst, was es war. Er hatte gehört, dass es vielen Erstverurteilten mit langen Haftstrafen so ging: Paranoia, Angst, Beklemmungsgefühle und Stress, die gemeinsam dem Verstand ein Schnippchen schlagen und als einfache Abhilfe den Wahnsinn offerieren. Er hatte sich fest an seine geistige Gesundheit geklammert und sich nicht erschüttern lassen. Und er hatte es durchgestanden. Er hatte gelernt, nicht auf das Wasser zu hören.
    Am unteren Rand des Fensters, das der Haustür am nächsten war, tauchte ein dunkles Gesicht auf, schwebte einen Augenblick lang hinter der Glasscheibe und verschwand wieder.
    Einen Moment später ging die Tür auf, und Philippe winkte sie herein. Die Hunde blieben, wo sie waren.
    Drinnen war es dunkel und kühl. Ein angenehm süßer Geruch hing in der Luft, wie in einem gut bestückten Süßwarenladen: Düfte von Schokolade und Vanille, Zimt, Anis, Minze und Orange, die hin und her zu schweben schienen, ohne sich zu einem einzigen Duft zu vereinigen.
    Philippe führte sie in das Zimmer, wo seine Mutter an einem langen Tisch saß und auf sie wartete. Das schwarze Tischtuch war mit purpurroten, goldenen und silbernen Fäden durchwirkt. Sie saß im Rollstuhl.
    Das Zimmer hatte kein Fenster. Trotzdem war es hell, weil überall dicke rote Kerzen brannten. Sie waren in dichten rautenförmigen Mustern auf dem Fußboden aufgestellt, steckten in vielarmigen Messingkandelabern oder standen auf allen möglichen Objekten unterschiedlicher Form und Höhe, die ebenfalls in schwarzes Tuch gehüllt waren. Die Kerzen auf dem Fußboden hatten die Form von Taukreuzen: Die Flamme bildete das obere Ende des senkrechten Balkens.
    Eigentlich hätte es brütend heiß sein müssen, aber dank der Klimaanlage, die auf Hochtouren lief,