Voodoo
hatten die ganze Gegend nach ihnen abgesucht, aber sie sind nie gefunden worden. Manche meinten, sie müssten in den Wasserfall gestürzt sein, andere behaupteten, sie wären drüben beim Friedhof Tonton Clarinette begegnet.
Eines Tages war die Mutter, Merveille – inzwischen eine alte Frau –, zu allen Freunden gegangen und hatte erzählt, ihr Sohn sei zurückgekehrt, und sie sollten alle mitkommen, um ihn zu sehen. Sie hatte eine große Gruppe zusammenbekommen und zu ihrem Haus geführt. Doch als sie dort ankamen, war niemand da. Sie beharrte darauf, der Junge sei zurückgekommen, er sei gut angezogen gewesen und sehr reich. Sie zeigte ihnen die dicke Rolle Geldscheine, die er ihr gegeben hatte, alles nagelneue Scheine. Sie hatte ihn gefragt, was geschehen war, warum er verschwunden war, und er hatte gesagt, ein Mann mit entstelltem Gesicht habe ihn und seine Schwester mitgenommen.
Die Leute hatten ihr nicht so recht geglaubt, aber auch nicht widersprochen, weil sie auf einmal die reichste Frau des Dorfes war. Im Stillen jedoch hatten sie sie für verrückt erklärt.
Seither hatte Merveille gewartet, dass ihr Sohn noch einmal zurückkehrte. Doch das tat er nicht. Sie wartete und wartete und ging nicht mehr aus dem Haus, weil er ja vielleicht kommen würde. Immer und immer wieder hatte sie seinen Namen gerufen: Boris.
Schließlich wurde sie tatsächlich wahnsinnig. Sie hatte Halluzinationen und wurde gewalttätig, wenn jemand ihr zu helfen versuchte. Sie hatte keine weiteren Verwandten, und mit der Zeit verlor sie alle Freunde.
Und plötzlich, eines Tages, war es in ihrem Haus ganz still geworden. Als einige Nachbarn endlich den Mut aufbrachten, das Haus zu betreten, war sie verschwunden. Seitdem war sie nicht wieder gesehen worden. Kein Mensch wusste, was mit ihr geschehen war. Es wa r ein Rätsel.
»Und, was denken Sie, Herr Detektiv?«, fragte Chantale und wischt e sich mit einer Serviette über den Mund.
»Über die verschwundenen Kinder? Vielleicht sind sie entführt worden, und vielleicht ist der Sohn tatsächlich zurückgekommen – woher hätte sie sonst das Geld haben sollen?«, sagte Max. »Aber vielleicht ist die ganze Geschichte auch nur wieder eine Legende.«
Sie saßen im Auto und aßen das Mittagessen, das Chantale vorbereitet hatte: Sandwiches aus selbst gebackenem Brot mit Schweinelende, Avocado und Gewürzgurke, Kart offelsalat mit roten Paprika, Bananen und Prestige- Bier. Das Radio lief leise, ein amerikanischer Sender dudelte Rockhymnen rauf und runter: Eagles, Boston, Blue Oyster Cult, REO Speedwagon. Max drehte weiter zu haitianischem Gebrabbel und beließ es dabei.
Es war später Nachmittag. Die Dämmerung brach herein, und über ihnen zogen sich die Wolken zusammen und verdeckten nach und nach den Himmel.
»Was ist mit Vincent Paul?«
»Der ist immer noch mein Hauptverdächtiger. Er ist die einzige Konstante, der Einzige, der immer und überall auftaucht. Gut möglich, dass er Charlie entführt hat, um sich für ein tatsächliches oder empfundenes Unrecht gegen seine Familie zu rächen. Natürlich habe ich dafür absolut keine Beweise.« Max leerte sein Bier. »Ich müsste mit Paul sprechen, aber da hätte ich wahrscheinlich bessere Chancen auf ein Vieraugengespräch mit Bill Clinton. Außerdem gehe ich davon aus, dass Beeson, Medd und dieser Emmanuel Michelangelo genau das versucht haben und deshalb da gelandet sind, wo sie eben gelandet sind.«
»Und wenn er nichts damit zu tun hat?«, sagte Chantale. »Kann doch sein, dass es jemand war, von dem Sie noch gar nichts wissen.«
»Abwarten und Tee trinken. Das ist überhaupt die Hauptarbeit des Privatdetektivs: abwarten und Augen aufhalten.«
Chantale lachte laut auf und schüttelte müde seufzend den Kopf.
»Sie erinnern mich wirklich an meinen Exmann, Max. Genauso hat der auch geredet, wenn er mit einem Fall nicht weiterkam. Er war Polizist. Oder ist es noch. In Miami, um genau zu sein.«
»Echt? Wie heißt er?« Max war überrascht. Dabei wurde ihm praktisch im gleichen Moment klar, dass es dazu keinen Anlass gab. Abgesehen von dem Voodoo-Zeug war sie ein geradliniger Mensch, konservativ und zuverlässig – genau der Typ Frau, den die meisten Polizisten heirateten.
»Ray Hernandez.«
»Kenne ich nicht.«
»Können Sie auch nicht. Er war noch in Uniform, als Sie den Dienst quittiert haben«, sagte sie. »Er wusste alles über Sie. Hat Ihren Prozess Tag für Tag verfolgt. Wenn er Dienst hatte, musste ich die
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