Voodoo
Fotos habe ich aufgehängt, kurz nachdem ich hier angefangen habe. Das war 1990. In unserer zweiten Religion ist die Seele eines Kindes ein gefragtes Gut. Sie kann viele Türen öffnen.«
»Sie meinen, es geht um Voodoo?«
»Wer weiß das schon?«
Es lag eine Traurigkeit in der Stimme des Priesters, eine Erschöpfung, die vermuten ließ, dass er jede Möglichkeit bereits unzählige Male durchgegangen war, ohne Erfolg.
Max begriff, dass dem Geistlichen die Sache persönlich nahe ging. Er ließ den Blick noch einmal über die Fotos wandern und suchte nach einer Familienähnlichkeit, um das Thema ansprechen zu können. Er fand nichts und versuchte es trotzdem.
»Welches ist Ihres?«
Zunächst war der Priester schockiert, dann lächelte er.
»Sie sind ein überaus hellsichtiger Mensch. Gott muss Sie erwählt haben.«
»Ich hatte nur den richtigen Riecher, Pater«, sagte Max.
Der Priester trat einen Schritt vor und zeigte auf das Foto eines kleinen Mädchens, das direkt neben dem von Charlie hing.
»Claudette, meine Nichte«, sagte er. »Ich gestehe, ich habe sie da aufgehängt, damit die Aura des reichen Jungen ein wenig auf sie abfärbt.«
Max nahm Claudettes Foto von der Wand: »Claudette Thodore, 5 ans, 10/1994«.
»Sie ist einen Monat nach Charlie verschwunden. Thodore – ist das auch Ihr Familienname?«
»Ja. Ich bin Alexandre Thodore. Claudette ist die Tochter meines Bruders Caspar«, sagte der Priester. »Ich gebe Ihnen seine Anschrift und seine Telefonnummer. Er lebt in Portau-Prince.«
Er zog ein kleines Notizbuch aus der Tasche und schrieb die Adresse seines Bruders auf, dann riss er das Blatt heraus und reichte es Max.
»Hat Ihr Bruder Ihnen erzählt, was passiert ist?«
»Erst war seine Tochter noch bei ihm, am nächsten Tag musste er nach ihr suchen.«
»Ich werde mein Bestes tun, sie zu finden.«
»Daran zweifle ich nicht«, sagte der Priester. »Übrigens, in Haiti haben die Kinder einen Spitznamen für den bösen Mann, der die Kinder klaut. Sie nennen ihn Tonton Clarinette , Onkelchen Klarinette.«
»Klarinette? Wie das Instrument? Warum?«
»Weil er die Kinder damit weglockt.«
»Wie der Rattenfänger?«
»Es heißt, Tonton Clarinette arbeitet für Baron Samedi – den Vodou-Gott des Todes«, sagte Pater Thodore. »Er stiehlt Kinderseelen, um damit die Toten zu unterhalten. Manche sagen, er ist halb Mensch, halb Vogel, andere beschreiben ihn als Vogel mit nur einem Auge. Und nur Kinder können ihn sehen. Das liegt daran, dass e r selbst noch ein Kind war, als er starb.
Der Legende nach gehörte der Junge der französischen Armee an, er war ein Maskottchen – ziemlich üblich damals. Sein Regiment war eines von denen, die im 18. Jahrhundert nach Haiti geschickt wurden. Er war zur Unterhaltung der Soldaten da, musste ihnen auf der Klarinette vorspielen. Die Sklaven auf den Feldern haben ihn spielen gehört, und es hat sie wütend gemacht. Für sie klang diese Musik nach Gefangenschaft und Unterdrückung.
Als die Sklaven schließlich rebellierten, überwältigten sie das Regiment des Jungen und nahmen viele Gefangene. Sie zwangen den Jungen, seine Klarinette zu spielen, während sie seine Kameraden einen nach dem anderen abschlachteten. Er spielte noch immer, als sie ihn bei lebendigem Leibe begruben.« Thodore sprach in feierlichem Tonfall. Es war nur eine Legende, aber er nahm sie sehr ernst. »Er ist ein relativ neuer Geist, in meiner Kindheit hat man ihn noch nicht gefürchtet. Ich habe die Leute zum ersten Mal vor ungefähr zwanzig Jahren von ihm reden hören. Es heißt, überall, wo er war, hinterlässt er sein Zeichen.«
»Was für ein Zeichen?«
»Ich habe es noch nicht gesehen, aber angeblich soll es aussehen wie ein Kreuz mit zwei Beinen und halbem Querbalken.«
»Sie sagten, in Haiti seien ›seit jeher‹ Kinder verschwunden. Haben Sie eine Ahnung, wie viele das sind pro Jahr?«
»Das kann man nicht sagen.« Thodore drehte die offenen Handflächen nach oben, um anzudeuten, dass jede Schätzung hoffnungslos war. »Die Dinge dort laufen anders als hier. Es gibt dort nichts und niemanden, dem man die Vermissten melden könnte. Und es gibt keinen Weg herauszufinden, wer diese Kinder sind oder waren, weil die Armen weder Geburts- noch Todesurkunden haben – das gibt’s nur für die Reichen. Fast alle Kinder, die verschwinden, stammen aus armen Familien. Wenn die weg sind, ist es so, als hätte es sie nie gegeben. Aber jetzt, mit dem Carver-Jungen, ist das anders. Er
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