Voodoo
Er war von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet: T-Shirt, Armeehosen und Springerstiefel. Er war groß und breit, dunkelhäutig und kahlköpfig. Max war sich nicht sicher, ob er Joes Statur hatte oder noch ein Stück größer war. Aber ohne Zweifel hatte er sehr viel mehr Ausstrahlung und sehr viel mehr Präsenz als Joe, dem es daran nicht gerade mangelte.
Er ging zu einer der Essensausgaben und half mit, reichte den Leuten ihre Teller, plauderte und lachte mit ihnen. Es war das Lachen – dieses tiefe, donnernde, joviale Dröhnen, wie das Grollen einer von ferne hereinkommenden Düsenjetformation –, das Max mit Sicherheit verriet, dass dieser Mann Vincent Paul war. Max kannte die Stimme noch aus jener Nacht, als er ihn vor den Straßenkindern gerettet hatte.
Nachdem er ein paar Teller ausgegeben hatte, mischte sich Paul unter die Leute. Wenn er mit den Kindern redete, ging er in die Hocke, um auf Augenhöhe mit ihnen zu sein. Bei den Männern und Frauen beugte er sich vor, um zu hören, was sie zu sagen hatten. Er schüttelte vielen die Hand und ließ sich umarmen und küssen. Als eine alte Frau ihm die Hand küsste, küsste er auch ihre und brachte sie damit zum Lachen. Die Schlangen bewegten sich nicht mehr vorwärts, die Leute blieben stehen und sahen ihm zu. Manche gaben ihren Platz in der Reihe auf und gingen zu ihm.
Dann hörte Max es. Zuerst nur ein leises Zischen, Fetzen eines Liedes – » sssan-sssan / ssssan-sssan / ssssan-ssssan «, dann wurde es lauter, als immer mehr Menschen einfielen und dem Gesang Körper und Substanz verliehen: »Vinnn- sssan / Vinnn -sssan / Vinnn -ssssan «. Paul stand jetzt im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit, aller Augen waren auf ihn gerichtet. Die Bewohner von Cité Soleil hatten ihren Hunger und ihr Elend vergessen und scharten sich in respektvoller Distanz um Vincent Paul, sodass er sich in einem kleinen Kreis frei bewegen, Hände schütteln und sich umarmen lassen konnte. Max bemerkte zwei umwerfend gut aussehende Frauen in militärischen Arbeitsanzügen, die rechts und links von Paul standen und die Menge im Auge behielten, die Hände stets an den Pistolen an ihren Hüften.
Paul hob die Hand, und es wurde still. Er war ein gutes Stück größer als der Größte in der Menge, sodass alle seinen riesigen kahlen Kopf sehen konnten. Er sprach mit tiefer Baritonstimme, die bis zu Max herüberdrang, auch wenn er kein Wort verstand. Die Menge hing an seinen Lippen und brach immer wieder in Jubel und Applaus aus, es wurde gepfiffen, mit den Füßen gestampft und gejohlt. Selbst Pauls Männer, die das alles mit Sicherheit schon eine Million Mal gehört hatten, klatschten mit ungekünstelter Begeisterung.
Das gleiche Theater hatte Max auch schon in den Straßen von Miami gesehen. Alle paar Jahre kam wieder einmal ein Dealer – der es mit viel Glück, Skrupellosigkeit, Geld und guten Kontakten geschafft hatte, noch am Leben und auf freiem Fuß zu sein – auf die glorreiche Idee, der Gemeinschaft, die er mit seinen Drogen und Bandenkriegen zu dezimieren geholfen hatte, »etwas zurückzugeben«. An Weihnachten rollten sie mit ihren Jungs in ihr altes Viertel und verteilten gebratene Truthähne, Geschenke und Geld. Meist geschah das zum Ende ihres Dealerlebens, eine letzte große Geste, bevor sie von einem Rivalen oder der Polizei aus dem Rennen genommen wurden. Sie hatten alles erreicht, wovon sie mit ihrem kleinen Hirn je zu träumen gewagt hatten: Geld, Frauen, Autos und Klamotten, sie wurden gefürchtet, und sie hatten Macht. Jetzt wollten sie auch noch geliebt und respektiert werden.
Das hier jedoch war anders. Pauls Altruismus nötigte Max Bewunderung ab, egal, welche eigennützigen Ziele er damit verfolgen mochte. Max fing an zu begreifen, dass in diesem Teil der Welt alles, was er kannte und für selbstverständlich hielt, entweder längst zusammengebrochen war oder nie existiert hatte. Die Leute hatten nur eine Möglichkeit, sich selbst zu helfen: Sie mussten ihre Heimat verlassen, wie es Tausende Jahr für Jahr taten, indem sie in Booten in See stachen und auf der Überfahrt nach Florida ihr Leben riskierten. Wer zurückblieb, war zu einem Leben auf Knien verdammt, ein Sklave der Freundlichkeit und der Gnade Fremder. Irgendjemand musste ihnen helfen. Und weil es nicht danach aussah, als würden das die USA oder die UNO sein – warum nicht der Mann, von dem alle Welt behauptete, er sei der größte Drogenbaron der Karibik?
Max beobachtete, wie Paul die
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