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Voodoo

Voodoo

Titel: Voodoo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stone
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menschliche Verzweiflung. Max wurde übel. Er zog sich eine der Masken vors Gesicht, die er am Morgen im Supermarkt gekauft hatte.
    Auf einer wackeligen Brücke aus zusammengebundenen Eisenträgern überquerte er den »Boston Canal«. Der zähe Schlammfluss voller Altöl teilte Cité Soleil in zwei Hälften: eine niemals heilende Wunde auf der vergifteten Seele des Slums, die ihr schwarzes Gift ins Meer blutete. Alles in allem der schlimmste Ort, den er je gesehen hatte: ein Höllenkreis, der zur Warnung auf die Erdoberfläche gehievt worden war. Er konnte nicht fassen, dass die UN und die USA das Land seit nunmehr zwei Jahren besetzt hielten und in Cité Soleil offensichtlich nichts unternommen hatten.
    Er hielt nach Hinweisen Ausschau, die ihn zu Vincent Paul hätten führen können, nach Autos, Jeeps oder irgendetwas Funktionierendem, das nicht hierher gehörte. Doch was er sah, war Elend, das im Elend lebte, Krankheit, die sich von Krankheit nährte, und Menschen, die ihrem eigenen Schatten nachliefen.
    Er kam zu einer kleinen Anhöhe und stieg aus dem Wagen, um sich umzuschauen. Chantales Warnung folgend, hatte er sich ein Paar Wegwerfschuhe zugelegt, ausgetretene Armeestiefel mit abgelaufenen Absätzen. Er hatte sie auf dem Gehweg unweit des Impasse Carver von einer Frau erworben, die einen ganzen Korb davon feilbot. Jetzt war er froh darüber, weil seine Füße bei jedem Schritt ein klein wenig in den Boden gesaugt wurden, der trotz des grellen Sonnenlichts weich und matschig war.
    Er betrachtete das Elend um sich herum, die zahllosen Hütten, die wie metallische Pusteln aus dem Boden wuchsen. Über eine halbe Million Menschen lebten hier. Und trotzdem herrschte eine unheimliche Stille, war kaum ein Laut zu hören, nur das Rauschen des Meeres in fast einem halben Kilometer Entfernung. Die gleiche angespannte Stille, die er aus den übelsten Ecken von Liberty City kannte, wo stündlich der Tod zuschlug. Hier war das vermutlich jede Sekunde der Fall.
    Konnte Vincent Paul wirklich hier sein Hauptquartier haben? Konnte er wirklich in einer so elenden Umgebung leben?
    Plötzlich versank er mit einem schmatzenden Geräusch bis zu den Knöcheln im Schlamm und spürte, wie der Matsch an seinen Schuhsohlen zerrte. Er riss die Füße hoch und trat zurück auf festen Grund. Die tiefen Fußspuren, die er hinterlassen hatte, liefen sofort wieder voll. Die Erde heilte die Wunde in ihrer glatten, klebrigen Oberfläche, indem sie einen zähen, giftigen Sirup darüberstrich.
    Max hörte Autos näher kommen.
    In der Ferne, zu seiner Linken, sah er einen kleinen Konvoi aus Militärfahrzeugen – drei Armeelaster, davor und dahinter Jeeps –, der Richtung Meer fuhr.
    Er rannte zurück zu seinem Landcruiser und ließ den Motor an.

27
    Max folgte dem Konvoi zu einer Lichtung unweit des Meeres, wo im Halbkreis mehrere große, olivgrüne Zelte aufgestellt worden waren. Auf zweien wehte die Fahne des Roten Kreuzes.
    Hunderte Menschen aus Cité Soleil standen für das Essen an, das von Soldaten an langen Klapptischen ausgegeben wurde. Die Leute nahmen ihre Pappteller entgegen und aßen, wo sie gerade standen, einige gingen mit dem noch vollen Teller zum Ende der Schlange zurück, um sich gleich noch eine zweite Portion zu holen.
    Andere standen mit leeren Eimern, Dosen und Kanistern vor einem Wasserwagen an. Ein Stück weiter gab es noch drei Schlangen, dort wurden Reis, Maismehl und Kohle ausgegeben. Die Schlangen waren überraschend ordentlich und ruhig. Kein Gedränge und Geschubse, keine Streitereien, keine Panik. Alle würden sie das bekommen, worauf sie warteten, genau wie beim Abendmahl.
    Max wollte gerade glauben, dass er sich geirrt hatte, dass die UN tatsächlich etwas taten, um das Leid dieser verzweifelten Menschen zu lindern, die sie im Namen der Demokratie befreit hatten. Doch bei genauerem Hinsehen musste er feststellen, dass die Fahrzeuge allesamt ohne Aufschrift waren. Keiner der Soldaten trug den himmelblauen Helm der internationalen Truppen, und keiner hatte die gleiche Waffe wie sein Nachbar. Vielmehr stellten sie ein wahres Sammelsurium an Schießprügeln zur Schau, wie es jeder Straßengang zur Ehre gereicht hätte: Uzis, Pumpguns, Kalaschnikows.
    Max begriff, dass er Vincent Paul und seine Brüderbande vor sich sah, und fast im gleichen Moment entdeckte er den Mann selbst, der gerade aus einem Lazarettzelt kam. Genau wie seine Leute trug auch er keine Maske, keine Chirurgenhandschuhe und keine Wegwerfstiefel.

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