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Voodoo

Voodoo

Titel: Voodoo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stone
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Zeitpunkt konnte er nichts ausschließen.
    Eine Weile später versuchte er zu schlafen, aber ohne Erfolg. Er ging in die Küche und entdeckte in einem der Schränke eine noch ungeöffnete Flasche Barbancourt-Rum. Als er sie herausnahm, sah er ganz hinten in der Ecke etwas stehen. Eine zehn Zentimeter große Drahtfigur, ein Mann mit Strohhut, der breitbeinig dastand, die Arme hinter dem Rücken verschränkt.
    Max stellte sie auf den Tisch und betrachtete sie, während er sich ein Glas Rum genehmigte. Der Kopf der Figur war schwarz angemalt, die Kleider – Hemd und Hose – dunkelblau. Er trug ein rotes Taschentuch und über der Schulter einen kleinen Tornister, eine Art Schulranzen. Die Haltung war militärisch, die Erscheinung erinnerte an eine nicht sehr farbenfrohe Vogelscheuche.
    Der Rum trank sich wie von selbst und erfüllte seinen Bauch mit einer beruhigenden Wärme, die sich schnell in seinem ganzen Körper ausbreitete und sich zu einem angenehmen Gefühl gänzlich grundloser Zuversicht auswuchs. Er gewöhnte sich langsam an das Zeug.

26
    Trotz allem, was Huxley und Chantale ihm über Cité Soleil erzählt hatten, hatte ihn doch nichts auf den schieren Horror vorbereitet, der bei seiner Fahrt durch den Slum an seiner Windschutzscheibe vorüberzog. Ein kleiner Teil in ihm, der einst hart und streng gewesen war, riss sich los und trieb auf den Ort zu, an dem er sein Mitgefühl verbarg.
    Am Anfang des schmalen, rußbedeckten Weges, der als Hauptdurchfahrtsstraße diente, glaubte er sich in einem Labyrinth aus Tausenden kleiner Hütten, die sich, so weit das Auge reichte, nach Osten und Westen, von Horizont zu Horizont, erstreckten. Kein Weg hinein oder heraus war zu erkennen, man konnte nur versuchen und raten und auf sein Glück hoffen. Doch je mehr Hütten er sah und je genauer er hinschaute, umso klarer wurde ihm, dass es auch im Slum eine Hackordnung gab, ein Klassensystem am untersten Rand der Gesellschaft. Ungefähr ein Viertel waren Lehmhütten mit Wellblechdach. Sie sahen halbwegs solide und bewohnbar aus. Danach kamen die Hütten mit Wänden aus dünnen Holzlatten und Dächern aus hellblauer Plastikplane. Bei mittleren Windstärken wurden die vermutlich mitsamt ihren Bewohnern ins Meer geweht. Trotzdem waren sie immer noch besser als die unterste Stufe in der Behausungspyramide des Slums: Hütten aus Pappkarton, die praktisch in sich zusammenklappten, wenn man sie nur ansah. Max vermutete, dass die Lehmhütten den alteingesessenen Slumbewohnern gehörten, die lange genug überlebt und sich auf dem Scheißhaufen nach oben gearbeitet hatten. In den Pappverschlägen hausten die Neuankömmlinge und die Schwachen, die Schutzlosen und die Todkranken, in den Holzhütten die dazwischen.
    Dicker, kohlschwarzer Rauch stieg aus den Löchern in den Dächern in den Himmel auf, wo sich eine zeppelinförmige graue Smogdecke gebildete hatte, die über dem Slum festhing, sich in der Brise bewegte, aber nicht aufbrach. Im Vorbeifahren spürte Max die Blicke aus den Hütten, Hunderte und Aberhunderte von Augenpaaren, die den Wagen ins Visier nahmen, sich durch die Windschutzscheibe bohrten und ihn bis auf den innersten Kern entblößten: Freund oder Feind, reich oder arm? Er sah magere, verbrauchte Menschen an den Hütten lehnen, die Haut klebte ihnen wie Schrumpffolie an den Knochen, sie schienen sich mit letzter Kraft am Leben festzuklammern.
    Hier und da, willkürlich verteilt, gab es freie Flächen, die noch nicht beansprucht und bebaut worden waren. Eine Mischung aus Müllhalde und Schlachtfeld aus dem Ersten Weltkrieg – nach der Schlacht: zerbombt, matschig, übersät mit Tod und Verzweiflung. An manchen Stellen war die Erde zu beeindruckend großen Hügeln aufgeschichtet worden, auf denen Kinder mit spinnendürren Beinen, kugelrundem Bauch und viel zu großem Kopf spielten und nach Verwertbarem stöberten.
    Er kam an zwei Pferden vorbei, die reglos dastanden und bis zu den Fesseln im Matsch versanken. Sie waren so dürr, dass er ihre Rippen zählen konnte.
    Überall offene Abwassergräben, ausgeweidete Autos und Busse und LKWs, die als Behausung dienten. Er hatte alle Fenster geschlossen und die Klimaanlage eingeschaltet, trotzdem drang der beißende Gestank von draußen in den Wagen: alle üblen, widerlichen Gerüche der Welt zu einem einzigen verarbeitet und mit zwei multipliziert: monatealte Leichen, gammelnder Abfall, menschliche Exkremente, tierische Exkremente, stehendes Wasser, ranziges Öl, kalter Rauch,

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