Vor aller Augen
West Twenty-third Street. Vor dem Fenster war eine L-förmige Neonleuchtreklame: HOTEL CHELSEA. Das vertikale HOTEL war weiÃ, das horizontale CHELSEA rot. Es war in New York eine Art Ikone.
»Seit anderthalb Tagen versuche ich, euch zu erreichen«, sagte Sterling. »Wagt es ja nicht, noch mal die Handys auszuschalten. Nehmt das als letzte Warnung.«
Die Frau, Zoya, gähnte und zeigte dem Telefon den Stinkefinger. Mit der freien Hand schob sie die CD East Eats West in das Gerät. Harte Rockmusik ertönte. »Wir waren beschäftigt, Liebling. Und wir sind immer noch beschäftigt. Was zum Teufel willst du? Hast du Geld für uns? Geld regiert die Welt.«
»Stell die Musik leiser, bitte. Bitte ! Jemand juckt es. Er ist stinkreich. Es geht um wirklich viel Geld.«
»Wie ich schon sagte, Liebling. Wir sind beschäftigt â mit anderen Dingen. Wie stark jucktâs den Kerl denn?«
»So wie beim letzten Mal. Sehr stark. Er ist ein persönlicher Freund vom Wolf.«
Bei der Erwähnung des Wolfs zuckte Zoya zusammen.
»Gib mir Details. Verschwende nicht unsere Zeit.«
»Wir machen es wie immer, Liebling . Ein Puzzlestück nach dem anderen. Wann könnt ihr aufbrechen? Wie wärâs in dreiÃig Minuten?«
»Wir müssen hier noch etwas zu Ende bringen. Sagen wir â vier Stunden. Dieses Bedürfnis , das da jemand verspürt, dieses Jucken â um welche Art von Jucken handelt es sich?«
»Eine Einheit, weiblich. Und nicht weit von New York entfernt. Als Erstes gebe ich euch eine Wegbeschreibung.
Die genauen Spezifikationen dieser Einheit später. Ihr habt vier Stunden Zeit.«
Zoya schaute ihren Partner an, der sich in einem Sessel räkelte. Slava spielte mit einer LedergeiÃel, während er ihr zuhörte. Er blickte durch das Fenster auf eine Konditorei, eine Schneiderei und einen Express-Fotoladen. Eine typische New Yorker Aussicht.
»Wir übernehmen den Job«, sagte Zoya. »Sag dem Wolf, wir besorgen seinem Freund alles, was er braucht. Kein Problem.« Dann warf sie Sterling aus der Leitung. Sie konnte sich das leisten.
Achselzuckend blickte sie zu ihrem Partner und dann auf das groÃe Bett mit dem dekorativen Kopfteil aus Stahl.
Ein junger blonder Mann lag darauf. Er war nackt und geknebelt. Mit Handschellen war er an die vertikalen Stahlstäbe gefesselt.
»Du hast Glück«, sagte Zoya zu dem Blonden. »Nur noch vier Stunden zum Spielen, Baby. Nur noch läppische vier Stunden.«
Dann schaltete sich Slava ein. »Du wirst dir wünschen, es wären weniger. Hast du je von dem russischen Wort zamochit gehört? Nein? Ich werde dir zamochit vorführen.
Vier Stunden lang. Ich habe es vom Wolf gelernt. Und jetzt lernst du es von mir. Zamochit . Das bedeutet, dass ich dir sämtliche Knochen im Leib brechen werde.«
Zoya zwinkerte dem jungen Mann zu. »Vier Stunden. Zamochit . Die nächsten Stunden wirst du mit in die Ewigkeit nehmen. Vergiss das nie, Liebling.«
11
Als ich morgens aufwachte, schlief Klein Alex friedlich neben mir, sein Kopf auf meiner Brust. Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, ihm noch schnell einen Kuss zu geben. Und dann noch einen. Während ich so neben meinem kleinen Sohn lag, dachte ich unwillkürlich an Detective Coulter und dessen Familie. Als sie aus dem Haus marschierten, war ich gefühlsmäÃig stark aufgewühlt gewesen. Die Familie hatte Coulter das Leben gerettet, und wenn es um Familien ging, war ich ein totales Weichei.
Man hatte mich gebeten, im Hoover Building vorbeizuschauen, das man immer »das Büro« nannte, ehe ich nach Quantico fuhr. Der Direktor wollte mit mir über die Ereignisse in Baltimore sprechen. Ich hatte keine Ahnung, womit ich zu rechnen hatte, und war sehr gespannt. Vielleicht hätte ich Nanas Kaffee an diesem Morgen weglassen sollen.
Fast jeder, der das Hoover Building gesehen hat, wird mir zustimmen, dass es sich dabei um einen eigenartigen und extrem hässlichen Bau handelt. Es nimmt einen ganzen Block zwischen Pennsylvania Avenue, Ninth, Tenth und
E-Street ein. Das Netteste, was ich darüber sagen kann, ist, dass es einer »Festung« gleicht. Drinnen ist es noch schlimmer. Das Büro ist so still wie eine Bibliothek und so hässlich wie eine Lagerhalle. Die langen Korridore sind weià und wirken steril.
Sobald ich die Etage des Direktors betrat, erschien sein Assistent, ein sehr
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