Vor aller Augen
dir.«
Er war groÃ, vielleicht einsfünfundachtzig, und gut gebaut, mit einem buschigen schwarzen Bart und blitzenden blauen Augen, die Intelligenz verrieten. Sie schätzte ihn auf
ungefähr fünfzig. Er hatte ihr gesagt, sie solle ihn Kunstdirektor nennen. Kein Grund für diesen Namen, jedenfalls bisher nicht, und auch sonst keine Erklärung für das, was geschehen war.
»Ich habe mir auch Sorgen gemacht, deshalb habe ich bei dir daheim angerufen. Ich schwöre es. Ich würde dich nicht anlügen, Audrey. Darin unterscheide ich mich von dir.«
Audrey schüttelte den Kopf. »Ich soll Ihnen trauen? Ihrem Wort?«
»Ich halte das für eine gute Idee, ja. Warum nicht? Wem könntest du sonst hier drauÃen trauen? Dir selbst natürlich. Und mir. Sonst ist hier niemand. Nur wir beide. Bitte, gewöhn dich daran. Du magst doch deine Rühreier weich, richtig? Flockig ? Ist das nicht das Wort, das du verwendest?«
»Warum tun Sie das?«, fragte Audrey. Da er sie noch nicht direkt bedroht hatte, wurde sie etwas mutiger. »Was tun wir beide hier drauÃen?«
Er seufzte. »Alles zu seiner Zeit, Audrey. Sagen wir fürs Erste, dass es eine ungesunde Besessenheit ist. Aber in Wahrheit ist es komplizierter. Doch lassen wir das jetzt.«
Seine Antwort hatte sie überrascht â er wusste , dass er ein abartiger Irrer war. Aber war es gut oder schlecht, dass er genau wusste, was er tat?
»Ich würde dir gern so viel Freiheit wie möglich geben. Ich will dich nicht anbinden, um Himmels willen, nein. Nicht mal mit dem Seil. Bitte, versuch nicht zu fliehen, sonst ist das unmöglich. Okay?«
Zuweilen schien er ganz vernünftig zu sein. Schien ! O Gott! War das hier nicht der absolute Wahnsinn? Selbstverständlich war es das. Aber stieÃen Menschen nicht ständig wahnsinnige Dinge zu?
»Ich möchte dein Freund sein«, erklärte er, als er ihr
das Frühstück servierte. Die Eier genau richtig, auÃerdem gab es Mehrkorntoast, Brombeermarmelade und Kräutertee. »Ich habe alles zubereitet, was du gern isst. Ich möchte dich so behandeln, wie du es verdienst. Du kannst mir trauen, Audrey. Fang an, mir wenigstens ein bisschen zu vertrauen ⦠Probier mal die Eier. Flockig. Einfach köstlich.«
32
Ich zählte meine Tage in Quantico, und das gefiel mir nicht besonders. Ich besuchte am nächsten Tag den Unterricht, dann eine Stunde Fitness-Training. Um fünf ging ich zu Monnie Donnelley, um zu sehen, was sie über das »WeiÃe Mädchen« gesammelt hatte. Sie saà in einem kleinen, voll gestopften Büro im zweiten Stock des Gebäudes, wo sich der Speisesaal befand. An einer Wand war eine Collage aus Fotos und Fotokopien von Beweisstücken äuÃerst brutaler Gewaltverbrechen, alles mit kubistischer Fantasie arrangiert.
Ich klopfte mit den Fingerknöcheln gegen ihr metallenes Namensschild, ehe ich eintrat.
Monnie drehte sich um und lächelte, als sie mich sah. Mir fielen Hochglanzfotos ihrer Söhne auf, ein lustiges Bild von Monnie mit den Söhnen und ein Bild von Pierce Brosnan als weltgewandter, sexy James Bond. »Hey, wer kommt denn da, um sich noch mehr Strafarbeit abzuholen. Aufgrund der GröÃe meines winzigen Büros können Sie sehen, dass das FBI noch nicht begriffen hat, dass wir im Informationszeitalter leben. Den Dritten Weg hat Bill Clinton
das genannt. Sie kennen sicher den Witz: Das FBI unterstützt morgen die Technologie von gestern.«
»Irgendwelche Informationen für mich?«
Monnie drehte sich zurück zu ihrem IBM-Computer.
»Ich drucke Ihnen die besten Sachen für Ihre knospende Sammlung aus. Ich weiÃ, Ihnen sind Papierseiten lieber. Dinosaurier.«
»Ich arbeite nun mal so.«
Ich hatte mich über Monnie erkundigt und überall das Gleiche gehört. Sie war blitzgescheit, arbeitete unglaublich hart und wurde von den hohen Herren in Quantico bedauernswerterweise völlig unterschätzt. Ich hatte auch erfahren, dass Monnie eine allein erziehende Mutter von zwei Söhnen war und sich mühsam durchschlagen musste. Die einzige »Klage« über sie war, dass sie zu viel arbeitete und am Wochenende sogar noch Arbeit mit nach Hause nahm.
Monnie ordnete einen dicken Papierstapel für mich. Ich bemerkte, wie ordentlich sie die Seiten aufeinander legte. Alles musste genau richtig sein.
»Ist Ihnen irgendwas aufgefallen?«,
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