Vor aller Augen
schlieÃlich. »Es muss nicht einmal ein Verhaltensmuster existieren, wenn das Entführungsteam für Geld arbeitet. Ich bin geneigt, das für wahrscheinlich zu halten. Das sind keine Verbrechen aus Leidenschaft. Mich stören aber die Fehler. Warum machen sie diese Fehler? Das ist der Schlüssel zu allem.«
35
Lizzie Connolly hatte keinerlei Zeitgefühl mehr. Sie würde bald sterben, dessen war sie sich sicher. Sie würde Gwynne, Brigid, Merry und Brendan nie wieder sehen. Das stimmte sie unglaublich traurig. Sie würde unweigerlich sterben müssen.
Nachdem er sie in dieser Wandschrank-Kammer eingesperrt hatte, lieà sie sich nicht von Selbstmitleid oder Panik überwältigen, da sie nicht wollte, dass diese Gefühle den Rest ihres Lebens beherrschten. Gewisse Dinge waren ihr vollkommen klar. Das Entscheidende: Dieses Monster würde sie niemals frei lassen. Daher hatte sie zahllose Stunden damit verbracht, Fluchtpläne zu schmieden. Doch wenn sie realistisch nachdachte, wusste sie, dass ihr die Flucht nicht gelingen würde. Sie war mit Lederriemen gefesselt, und obwohl sie sich alle Mühe gegeben hatte, war es ihr nicht gelungen, sich daraus zu lösen. Doch selbst wenn ihr das durch ein Wunder gelungen wäre, verfügte sie nicht über die Kraft, ihn zu überwältigen. Er war wohl der stärkste Mann, den sie je gesehen hatte, doppelt so stark wie Brendan, der am College Football gespielt hatte.
Also, was konnte sie tun? Vielleicht kam eine Möglichkeit während des Besuchs der Toilette oder beim Essen â aber dieser Mann war so vorsichtig und beobachtete sie ständig. Lizzie Connolly wollte zumindest mit Würde sterben. Würde ihr das Scheusal das ermöglichen? Oder würde er sie leiden sehen wollen? Sie dachte viel über ihr bisheriges Leben nach, was sie tröstete. Wie sie in Potomac, Maryland, aufgewachsen war und fast jede freie Minute in dem nahe gelegenen Pferdestall verbracht hatte. Das College Vassar in New York. Dann die Washington Post . Ihre Ehe mit Brendan. Die guten und die schlechten Zeiten. Die Kinder. Alles führte zu jenem schicksalhaften Vormittag in der Phipps Plaza. Das Leben hatte ihr wirklich einen grausamen Streich gespielt.
Die letzten Stunden hatte sie in Dunkelheit zubringen müssen. Dabei hatte sie sich krampfhaft bemüht, sich zu erinnern, wie sie früher andere schreckliche Erlebnisse gemeistert hatte. Ja, immer hatte sie es mit Vertrauen und Humor geschafft und dem klaren Bewusstsein, dass Wissen Macht war. Jetzt versuchte Lizzie sich an spezifische Beispiele zu erinnern ⦠an alles, was ihr half.
Mit acht Jahren musste sie operiert werden, um ein schielendes Auge zu korrigieren. Ihre Eltern waren immer »zu beschäftigt«, deshalb hatten die GroÃeltern sie ins Krankenhaus begleitet. Als sie sie weggehen sah, hatte sie furchtbar geweint. Aber als die Schwester hereinkam und sah, dass Lizzie weinte, hatte sie erzählt, sie hätte sich den Kopf gestoÃen. So hatte Lizzie irgendwie diesen schrecklichen Moment der Einsamkeit überstanden.
Als sie dreizehn war, gab es einen weiteren schrecklichen Zwischenfall. Sie kam von einem Wochenendausflug mit Freunden der Familie aus Virginia zurück und war im Auto eingeschlafen. Als sie aufwachte, war sie benommen,
verwirrt und völlig mit Blut bedeckt. Sie erinnerte sich daran, dass sie in die unheimliche Dunkelheit hinausgestarrt hatte. Erst langsam dämmerte ihr, was geschehen war. Es hatte einen Unfall gegeben, während sie geschlafen hatte. Ein Mann aus einem anderen Auto lag auf der StraÃe. Er rührte sich nicht â aber Lizzie glaubte zu hören, wie er ihr sagte, sie solle keine Angst haben. Er sagte, sie könne auf der Erde bleiben oder diese verlassen. Es war ihre Entscheidung â allein ihre. Sie hatte entschieden zu leben.
»Es ist meine Entscheidung«, sagte Lizzie sich in der Dunkelheit des Wandschranks. »Ich habe die Wahl, zu leben oder zu sterben, nicht er. Nicht der Wolf entscheidet das, sondern ich. Ich will leben.«
36
Am nächsten Morgen versammelten sich fast alle, die mit dem Fall »WeiÃes Mädchen« befasst waren, im Hauptkonferenzsaal in Quantico. Noch hatte man uns nicht viel gesagt, nur, dass es bahnbrechende Neuigkeiten gäbe. Das war gut. Ich hatte die Schnauze mehr als voll von dieser Bürokratie.
Senior Agent Ned Mahoney, Leiter des HRT, kam erst, als der Raum
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