Vor aller Augen
haben.
Der schnittige schwarze Bell landete auf einem kleinen
Flugplatz in Norristown, Pennsylvania. Während des Flugs dachte ich über einen Einführungsunterricht nach, den ich vor kurzem besucht hatte. Wir hatten abgeschnittene Fingernägel verbrannt, damit alle wussten, welchen Geruch eine Leiche verströmte. Ich hielt es für unwahrscheinlich, diesmal in Pennsylvania Leichen zu finden. Leider sollte sich herausstellen, dass ich mich irrte.
Agenten von unserer AuÃenstelle in Philadelphia erwarteten den Hubschrauber und führten mich an den Ort, wohin man Audrey Meek zur Befragung gebracht hatte. Bis jetzt war noch keine Presseerklärung abgegeben worden, aber man hatte ihren Mann verständigt und er war auf dem Weg nach Norristown.
»Ich weià nicht genau, wo wir sind«, sagte ich, als wir zur örtlichen Unterkunft der Staatspolizei fuhren. »Wie weit entfernt sind wir von dem Punkt, wo Mrs. Meek entführt wurde?«
»Zirka fünf Meilen«, antwortete einer der Agenten aus Philadelphia. »Mit dem Auto ungefähr zehn Minuten.«
»Wurde sie auch in der Nähe gefangen gehalten?«, fragte ich. »Wissen wir das schon? Was genau wissen wir?«
»Sie hat der Staatspolizei erzählt, dass der Entführer sie heute Morgen, ziemlich früh, hierher gebracht hat. Sie ist wegen der Wegbeschreibung nicht sicher, aber sie glaubt, dass sie über eine Stunde gefahren sind. Er hatte ihr die Armbanduhr abgenommen.«
Ich nickte. »Hat man ihr bei der Fahrt eine Augenbinde umgelegt? Davon gehe ich aus.«
»Nein. Das ist schon eigenartig, nicht wahr? Sie hat ihren Entführer mehrere Male gesehen. Auch seinen Wagen. Es schien ihm völlig gleichgültig zu sein.«
Das verblüffte mich. Es passte überhaupt nicht ins Bild, und das sagte ich auch.
»Wir tappen bei diesem Fall bis jetzt doch völlig im Dunkeln«, meinte der Agent.
Die Unterkunft der Staatspolizei war ein rotes Backsteingebäude, ein Stück abseits der SchnellstraÃe. DrauÃen war alles ruhig, und ich nahm das als ein gutes Zeichen. Zumindest war ich schneller als die Presse gewesen. Bisher hatte noch keiner die Story weitergegeben.
Ich ging rasch hinein, um mit Audrey Meek zu sprechen. Ich konnte es kaum erwarten, herauszufinden, wie sie diese scheinbar aussichtslose Situation überlebt hatte. Sie war die erste Frau, der das gelungen war.
50
Mein erster Eindruck war, dass Audrey Meek nicht wie sie selbst aussah, nicht wie sie in der Ãffentlichkeit ausgesehen hatte. Nach diesem schrecklichen Martyrium war sie dünner, besonders im Gesicht. Ihre Augen waren dunkelblau, lagen aber tief in den Höhlen. Ihre Wangen zeigten etwas Farbe.
»Ich bin FBI-Agent Alex Cross. Wie schön, Sie in Sicherheit zu sehen«, sagte ich leise. Ich wollte sie jetzt nicht befragen, aber es musste sein.
Audrey Meek nickte, und unsere Augen trafen sich. Ich hatte das Gefühl, dass ihr bewusst war, welches Glück sie gehabt hatte.
»Ihre Wangen haben etwas Farbe. Haben Sie sich die heute geholt?«, fragte ich. »Als Sie im Wald waren?«
»Ich bin nicht sicher, aber ich glaube nicht. Er hat mich
jeden Tag zu einem Spaziergang nach drauÃen geführt, nachdem er mich erst einmal hatte. Unter den gegebenen Umständen war er oft rücksichtsvoll. Er hat mich meistens sehr gut bekocht. Er hat mir erzählt, er sei in Richmond mal Chefkoch gewesen. Wir haben lange Gespräche geführt, fast jeden Tag. Alles war so eigenartig. Irgendwann war er einmal nicht im Haus. Ich war vor Angst, dass er mich zum Sterben zurückgelassen hätte, wie versteinert. Aber eigentlich habe ich nicht geglaubt, dass er das tun würde.«
Ich unterbrach Audrey Meek nicht. Ich wollte, dass sie ihre Geschichte ohne Druck oder Steuerung meinerseits erzählte. Ich konnte es immer noch nicht fassen, dass sie freigelassen worden war. In derartigen Fällen geschah das nicht oft.
»Georges? Meine Kinder?«, fragte sie. »Sind sie schon da? Kann ich sie sofort sehen, wenn sie ankommen?«
»Sie sind unterwegs«, erwiderte ich. »Wir bringen sie sofort zu Ihnen, wenn sie da sind. Ich würde Ihnen gern einige Fragen stellen, während alles noch ganz frisch ist. Es tut mir Leid, aber es gibt vielleicht noch mehr vermisste Personen, Mrs. Meek. Wir gehen davon aus.«
»O mein Gott«, flüsterte sie. »Wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann, tue ich es.
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