Vor aller Augen
Keiner hier scheint etwas Genaues zu wissen.«
Ich begriff nicht. »Wissen Sie, wie lange man die beiden observiert hat? Vergessen Sie es, Monnie, ich biege jetzt von der 95 ab und bin gleich da. In ein paar Minuten können wir reden.«
»Tut mir Leid, dass ich Ihnen so früh schon den Tag verdorben habe«, sagte sie.
»Der war bereits ruiniert«, murmelte ich.
Wir arbeiteten den ganzen Tag bis sieben Uhr abends, hatten aber immer noch keine guten Antworten auf etliche Fragen über die Verhaftung in Pennsylvania. Ich kannte eigentlich nur einige unwichtige Details und war ziemlich frustriert. Die beiden Männer hatten Vorstrafen wegen des
Verkaufs von Pornografie. Agenten unserer AuÃenstelle in Philiadelphia hatten einen Tipp bekommen, dass die beiden bei einer Entführung eine Rolle spielten. Es war unklar, wer in der Kommandokette des FBI von den Verdächtigen wusste, aber offensichtlich hatte es eine interne Kommunikationspanne gegeben. Von derartigen Pannen hatte ich schon Jahre vor meinem Eintritt in Quantico gehört.
Ich sprach mehrfach während des Tages mit Monnie, aber mein Kumpel Ned Mahoney rief mich nicht wegen der Verhaftung an. Auch Burnsâ Büro nahm keinen Kontakt mit mir auf. Ich war erschüttert. DrauÃen sah ich vor meinem Fenster Ãbertragungswagen von USA Today und CNN . Ein wirklich eigenartiger Tag. Seltsam und beunruhigend.
Am späten Nachmittag dachte ich wieder über Christine Johnsons Besuch bei uns nach. Immer wieder rief ich mir die Szene ins Gedächtnis, wie sie das Baby gehalten und mit Alex gespielt hatte. Konnte ich ihr glauben, dass sie nur nach Washington gekommen war, um Alex und ein paar alte Freunde zu sehen? Mir tat das Herz weh bei dem Gedanken, »den groÃen Jungen« â ich nannte ihn immer GroÃer Junge! â zu verlieren. Er war so eine Freude für mich, die Kinder und Nana Mama. Es wäre ein unerträglicher Verlust. Ich vermochte mir das gar nicht vorzustellen. Aber ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass Christine ihn nicht zurückhaben wollte.
Ehe ich abends nach Hause fuhr, zwang ich mich zu einem Anruf, vor dem ich mich fürchtete. Als ich über Klein Alex nachdachte, fiel mir das Versprechen ein, das ich Richter Brendan Connolly gegeben hatte. Er meldete sich sehr schnell.
»Hier ist Alex Cross«, sagte ich. »Ich wollte mich nur bei Ihnen melden. Haben Sie heute die Nachrichten gesehen?«
Richter Connolly fragte mich, ob wir seine Frau gefunden hätten und ob es wegen Lizzie irgendwelche Neuigkeiten gäbe.
»Noch hat man sie nicht gefunden. Ich glaube nicht, dass diese beiden Männer mit der Entführung Ihrer Frau etwas zu tun haben. Aber wir haben immer noch die starke Hoffnung, sie zu finden.«
Er murmelte etwas vor sich hin, das ich nicht verstehen konnte. Nachdem ich mehrere Sekunden zugehört hatte, aber nichts begriff, unterbrach ich ihn und versicherte ihm, dass ich ihn auf dem Laufenden halten würde. Falls jemand mich auf dem Laufenden halten würde â¦
Nach diesem schwierigen Telefonat blieb ich noch eine Weile an meinem Schreibtisch sitzen. Plötzlich wurde mir klar, dass ich etwas vergessen hatte: Meine Klasse hatte heute graduiert! Jetzt waren wir offiziell Agenten. Meine Klassenkameraden hatten ihre Akkreditierung erhalten und ihren Aufgabenbereich. Zurzeit wurden in der Lobby der Ehrenhalle, der Hall of Honor, Kuchen und Punsch serviert. Ich machte mir nicht die Mühe, zu dieser Party zu gehen. Irgendwie erschien es mir unpassend, mich dort zu zeigen. Stattdessen fuhr ich nach Hause.
57
Wie viel Zeit blieb ihr noch? Ein Tag? Stunden? Irgendwie spielte es keine Rolle. Lizzie Connolly lernte, das Leben so zu akzeptieren, wie es kam. Sie lernte, wer sie tief im Innern war und wie sie ihr seelisches Gleichgewicht bewahren konnte.
Abgesehen von den Situationen, wenn sie vor Angst fast den Verstand verlor.
Lizzie nannte es ihre »Schwimmträume«. Sie war, seit sie vier Jahre alt geworden war, eine begeisterte Schwimmerin. Die Wiederholung von Greifen und StoÃen vermochte sie stets an einen anderen Ort und in eine andere Zeit zu versetzen. Wie ein Autopilot ermöglichte ihr das die Flucht, auch hier in der engen Kammer, in der sie gefangen gehalten wurde.
Schwimmen.
Fliehen.
Mit gewölbter Hand weit nach vorn ausholen, das Wasser packen, bis zum Nabel drücken. Greifen, stoÃen, greifen, stoÃen. Das heiÃe
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