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Vor dem Fest

Vor dem Fest

Titel: Vor dem Fest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Saša Stanišic
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Der farblose Wechsel von Hausdächern und Eschenscherenschnitt. Frau Kranz kennt das alles sehr genau. Einmal hat sie das Berliner Tor aus dem Gedächtnis gemalt. Die Risse in den Steinen des Bogens fast perfekt getroffen.
    Sie schließt die Augen, und die sechs tun den ersten Schritt, als hätten sie die Gleichzeitigkeit geübt.
    Frau Kranz sieht ihr Dorf nicht, sie weiß ihr Dorf.
    Die Mutter nannte sie Ana, damit sie nicht ein »n« mehr hat als die Anas in der Gegend.
    Omne solum forti patria est. Dem Starken ist jeder Ort Heimat.
    Sie möchte einmal nicht die Wirklichkeit gemalt haben, sondern etwas, das später wirklich geworden ist. Aber wie geht das?
    Sie möchte malen, was niemand weiß.
    Sie möchte das Böse malen in uns, aber wie geht das?
    Sie möchte das Durchhalten malen, aber wie geht das?
    Das Hindern, aber wie?
    Frau Kranz watet durch den See. Eine Ente wird aus dem Schlaf geschreckt, schimpft kraftlos. Das Quaken schwappt über die Mauer in die Straßen. Frau Kranz’ Abendkleid wird nass.

JENE SIEDLER, DIE SICH VOR HUNDERTEN VON JAHREN als erste an unseren Seen niederließen, fanden Sandböden vor, die sich leidlich bändigen ließen, dichte Wälder, in denen sie das Wild töteten und getötet wurden, sowie fischarme Gewässer, allerdings mit prächtigen Krebsen darin, die in Adelskreisen als Spezialität galten, obwohl sie scheußlich schmeckten, bis das einer irgendwann aussprach, dass die Krebse scheußlich schmeckten, und die Mode schlagartig verging.
    Der größere der beiden Seen war den Siedlern nicht geheuer. Zwar war das Gewässer in Ufernähe seicht und von einem gesunden Braun, dahinter fiel aber der Grund steil ab in eine Untiefe so schwarz, dass die Leute sagten, dies ist das Wasser, in dem der Teufel sich ein Mal in dreizehn Jahren wäscht, dies ist das Düvelsbad.
    Der Wald wurde gerodet, die Äcker wurden größer, und wo einst einzelne Häuser und Gehöfte gestanden hatten, gab es jetzt ein Dorf, das später gar Stadtrecht bekam sowie eine starke Mauer gegen das Land Stargard. Anfangs sagten die Leute, dass sie bei den vörste velden am Düvelsbad lebten – heute sagt man Fürstenfelde.
    Wer in der ersten Zeit zu der neuen Siedlung wollte, den setzte der Fährmann über den See. Tüchtig nahm er sich der Menschen und Waren an und verlangte von manchem Ortsfremden statt Talern Geschichten zum Lohn, und die gab er im Dorfkrug an seine Fürstenfelder weiter.
    Eines kühlen Abends – es war längst Herbst – verstummten die Frösche und ruhte das Wasser und legte sich der Wind, als hielte er den Atem an, da wurde am Steg die Glocke heftig geschlagen und in der Dämmerung stand ein schmächtiges Kerlchen, das mit grimmiger Miene über den See sah.
    »Sag, alter Mann«, sprach das Kerlchen heiser zum Fährmann und deutete mit dem knochigen Finger über das Gewässer. »Was ist das da drüben für ein Unfug?«
    Der Fährmann erkannte keinen Unfug, bloß die Bauern, welche emsig auf ihren Feldern das letzte Tagwerk verrichteten. Auf eine Antwort wollte es dem Kleinen wohl auch nicht ankommen, schon war es in den Kahn gesprungen und verlangte, übergesetzt zu werden. Der Fährmann zögerte nur kurz, der Gast war ihm unheimlich, doch war er Gast und so wollte er ihn behandeln. Er machte den Kahn fertig und fuhr los.
    Unterwegs erkannte er, dass der Kahn schwerer und schwerer wurde. Da fragte das Männeken, ob dem Fährmann wohl das Rudern nicht zu mühsam werde. Dieser aber war ein stolzer Mann, also schüttelte er den Kopf und ließ sich nichts anmerken. Bald war es aber so, dass ihm das Rudern nicht nur schwerfiel, sondern unmöglich wurde. Es wollte scheinen, dass seine Ruder nicht in Wasser stießen, sondern in zähen Brei. Der Kleine fragte erneut nach, und diesmal sagte der Fährmann keuchend, er habe noch jeden hinübergebracht.
    Die Antwort gefiel dem Passagier. »Dann will ich dir helfen«, rief er, riss sich ein Bein aus und warf es über Bord. Nun ging es leichter, bald aber kamen sie desto schwerlicher voran. So sehr der Fährmann sich auch mühte, die Ruder steckten in dem schwarzen Wasser – war das noch Wasser? –, und der Kahn rührte sich nicht.
    Da nahm das Männeken seinen Hut ab, den eine lange, rote Feder schmückte, beugte die Knie und sprang in den See. Schon unter Wasser, rief es dem Fährmann zu: »Wart auf mich, es soll dein Schaden nicht sein.«
    Die rote Hutfeder warf einen flackernden Glanz bis ans Land. Dort, wo das Männeken eingetaucht, schlängelten

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