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Vor dem Fest

Vor dem Fest

Titel: Vor dem Fest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Saša Stanišic
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sich nicht. Sie hörte die Schreie des Ferkels, sah durch eine Spalte die Soldatenbeine. Seit einem Tag und einer Nacht hielt sie sich unter dem Kahn versteckt. Die Leute waren vor der Angst geflüchtet, die mit den Russen vorrückte, oder hatten sich erhängt, oder waren gefunden worden. Ana hatte nicht wieder fliehen wollen. Noch zwei Tage verbrachte sie unter dem Kahn. Sie trank den See. Wurde gefunden. Vom Fährmann, er war zurück. Er nahm sie auf, versteckte sie im Verschlag unter den Dielen, hinter Paddeln, Seilen, Zeug. Gab ihr zu essen. Erzählte oben von Tieffliegern, von marodierenden Soldaten, von Leichen am Wegesrand. Sie hörte unten durch die Bretter zu. Er warnte sie: Zeig dich nicht draußen, Mäken. Und einmal die Russenstimmen. Der Fährmann verstand sie nicht. Ana verstand die Stiefel auf den Dielen. Sie durchsuchten den Schrank, die Truhe. Das karge Mobiliar gab nichts her. Sie öffneten die Luke. Dunkel und vollgestellt. Ana hielt die Luft an. Sie nahmen den Fährmann mit. Erst nach Tagen traute sie sich nach oben. Stand neben dem Fenster, spähte, rührte sich nicht. Wenn welche am Steg angelten, stieg sie in den Verschlag. Der Fährmann war seit Tagen fort, sie hatten ihn eingesperrt oder Schlimmeres. Glocken läuteten. Schüsse fielen. Und dann kehrte er doch zurück, den Arm notdürftig verbunden, das Gesicht blaugeschwollen. Hatte Brot mitgebracht und Kohle für Ana zum Zeichnen. Ana spähte auf den See. Auf die Promenade. Auf den Frühling. Zeichnete, Ana Kranz zeichnete die Wände voll, der Fährmann hatte nichts dagegen. Zeichnete die Rückkehrer, fast nur alte Männer und Kinder, sie wuschen sich am See. Zeichnete die Soldaten, die miteinander spazieren gingen am Ufer wie Verliebte. Sie war viel allein. Sie aß das Brot langsam, sie trank den See, sie zeichnete. Neben dem Fenster eine kleine Skizze, sechs Gestalten, Hand in Hand, am See. Es war April, vielleicht Mai. Die Soldaten zeigten sich seltener. Anderthalb Monate blieb Ana im Fährhaus. Sechs Jahre später wird sie die sechs Frauen auf Leinwand übertragen, sie ankleiden und kämmen, ihnen Morgenfarben geben, und heute, so eine Nacht ist das, machen die sechs den ersten Schritt, und eine sieht sich um.
    Frau Kranz plagt ein beinahe körperliches Verlangen nach alten Geschichten. Es kommt von dem Ort, dem Fährhaus, kommt von der Nacht. Ist ein Durst nach der Antwort auf die Frage: Was hätte sie hindern … hätte ich sie hindern können?
    Es regnet stärker. Die Ufer, die Eschen, Zuhause. Frau Kranz führt den ersten Pinselstrich. Das Papier ist nass geworden. Sie reißt es ab, legt es aufs Wasser. Beginnt von neuem. Das Papier treibt langsam davon.

EIN FUHRMANN WECHSELT EIN PAAR WORTE MIT DEM FÄHRMANN , der Fährmann erkundigt sich nach dessen bisheriger Reise. Der Fuhrmann erzählt von Straßenkämpfen in Dresden. Da schenkt ihm der Fährmann vom Selbstgebrannten ein. Sie sehen zum Wasser, zum Himmel.
    Na dann, wollen wir, sagt der Fährmann.
    Steg, Dock, Fährmannglocke.
    Gummireifen, Fähre, Kahn.
    Stiefel, Türvorleger, Pflanzentopf ohne Pflanze.
    Holz, Holzwürmer, bessere Zeiten.
    Ein niedriges Bett, ein Fenster zum Ufer, eines zum Wasser, der Fährmann sah die Seen, auch wenn er träumte.
    Ein Tisch, auf dem er aus einem Teller aß, mit einer Gabel, einem Messer, einem Löffel.
    Ein Schrank, ein Handtuch, eine Rasierklinge.
    Eine Truhe, massiv, verschließbar, der Deckel gewölbt.
    Feuchtigkeit, Pilz, Mäuse.
    Luke, Verschlag, Zeug.
    Eine Durchreiche für den Fahrscheinkauf, ein Stift mit einem Kettchen an der Wand befestigt, ein Gästebuch, in das der Fährmann nur die Fahrgäste etwas schreiben ließ, die es sich während der Fahrt verdient hatten. Sieben nur in siebzig Jahren. Angela Merkel ist darunter.
    Zeichnungen an den Wänden gibt es keine mehr.
    Auch nach Fährmanns Tod brennt Licht, eine Glühbirne draußen über der Tür, vergessen oder ewig. In ihrem Widerschein auf dem Wasser schwebt ein Blatt Papier.

ANNA LÄUFT AN DEN NEUBAUTEN VORBEI und an Gut Gölow, bis runter zur Promenade. Schleppt sich eher, den Oberkörper gebeugt, das Ausatmen fällt ihr schwer. Am Fährhaus hält sie an, Hände auf Knien. Das ist nicht die Anstrengung, das ist eine Dummheit: Sie hat das Asthma-Spray vergessen.
    Unweit des Ufers, schwach angestrahlt von einer Lichtquelle steht jemand im Wasser. Der Regen sprüht über den See.
    »Hallo? Wer ist denn da?«
    Da ist Ana Kranz. Hier versucht Anna, ruhig zu atmen, die Luft pfeift

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