Vor dem Fest
erwartet. Zu Hause geht sie immer auf den gleichen Wegen. Sie könnte aus der Stube direkt in die Küche, aber sie nimmt den Umweg durch den Flur. Sie hat ihr Sofa und ihren Stuhl. Besucher müssen sich anmelden. Man könnte meinen, die immer neuen Touris in der Heimat machen ihr was aus, aber dazu sind die Unterschiede zwischen ihnen zu klein: die einen tragen eine Jacke von North Face , die anderen eine von Jack Wolfskin. Die einen wollen wissen, ob am Montag wirklich nirgendwo eine Gaststätte auf hat (doch, in Feldberg), die anderen wollen aufs Klo (den Gang runter, die Tür rechts vom Fernseher). Das war’s schon .
Einmal ruft sie nachts aus der Heimat an. Flüstert. »Ich darf heute nicht nach Hause.« Gut. Ich hole Pa. Und wir übernachten zu dritt in der Heimat.
Ich glaube, wenn mal aus irgendeinem Grund der Raps nicht losblühen sollte, läuft Mu Amok in der Landwirtschaft mit ihrer Knarre. Ja, die Knarre, das ist auch so eine Sache.
Ich hab mal irgendwann gefragt, ob sie eine gute Schützin ist.
Ja, bloß nicht so flink.
Mu ist komisch, das auf jeden Fall. Sie geht anders ab als alle, die ich kenne, aber eigentlich genau gleich wie alle: will irgendwie durch den Tag kommen. Sie ist nie fies. Sie mag alle, bis auf die, die sie zu Recht nicht mag. Liest viel. Wählt die Linke. Aber dann kocht sie zwei Wochen lang ausschließlich Sachen mit Roter Beete, was erst mal geil ist, weil Rote Beete geil ist, aber iss mal zwei Wochen am Stück jeden Tag Rote Beete, dann reden wir noch mal.
Trotzdem: Mu ist nicht gestörter als wir alle. Solche Hämmer, wie dass sie sich eine Knarre besorgt hat (wegen der Sicherheit), darf man einfach nicht ernst nehmen. Pa sagt: Auch wenn’s seltsam ist, ernst nehmen. Ja, seltsam ist es, aber was, wenn’s auch wahr ist und nicht so ganz harmlos?
Das mit dem Levitieren ist harmlos. Mu behauptet, kleine Gegenstände zum Levitieren bringen zu können. Ich bestreite es nicht. Vielleicht funktioniert es über ihr Gewicht. Um meine 130-Kilo-Mu verliert alles an Masse. Auch ich fühl mich leichter. Sie sitzt auf ihrem Sofa und übt mit Mini-Karotten. Sie hält eine Mini-Karotte zwischen den Fingern und konzentriert sich.
Ich frage, warum sie das macht, warum sie Dinge levitieren lassen will.
Damit sich die Leute freuen.
Das ist meine Mu: Damit sich die Leute freuen.
Mu ist am Limit. So viel hab ich verstanden. Vielleicht denkt sie sich so was wie das Levitieren aus, um weniger am Limit zu sein. Vielleicht glaubt sie, solang sie das nicht kann, Dinge nicht zum Levitieren bringen kann, ist alles in Ordnung mit ihr. Und wenn sie wirklich ne Knarre hat, um sich sicherer zu fühlen, dann ist das doch gut. Wenn sie sich die nur ausgedacht hat und sich aber trotzdem besser fühlt – noch besser. Ich bin ihr Sohn. Abschießen könnte Mu niemanden. (Wo und wenn es dir okay geht, ändere nichts am Wo und am Wenn.)
Ihr Depri-Frühling hat dieses Jahr bis zum 1. Mai gedauert. Der Erste war ein richtig warmer Tag. Mu ist aufgestanden und hat Rote Beete mit Spiegeleiern zum Frühstück gemacht, da war schon klar, dass es ihr besser geht. Dann hat sie sich in den Garten auf den Bauch gelegt und hat so mit den Armen gerudert, schwitzend wie ein Eisberg, Grasflecken von oben bis unten.
Ich: Mu, was machst du da?
Mu: Ich lern schwimmen.
Nach einer Stunde läuft sie auf die Straße, kurvt zur Promenade, immer schneller, Sebastian Vettel in dick, läuft auf den Steg beim Fährhaus, klatscht den Fährmann ab und springt in den See rein, eine Arschbombe, die Landschaften formt.
Pa und ich sind hinterher, besorgt. Natürlich besorgt. Mu war aber froh. Mu ist geschwommen. Gar nicht kalt, kommt schon, ihr Feiglinge. Der Fährmann ist rein. Mu und der Fährmann schwimmen um die Wette, Mu lässt ihn gewinnen.
Vielleicht konnte sie immer schon schwimmen, Pa wusste es nicht. Vielleicht hat sie es an dem Tag im Garten gelernt. Meine Mu ist jedenfalls nicht untergegangen. »Woo-Hoo!«, hat meine Mu gerufen.
IM JAR 1590 WAR ZU ANNENFESTE EIN SEILENTÄNZER ZUGEGEN , welcher das Seil oben am Giebel der Kirche und wiederumb am Berliner Thore gebunden und festgemacht hatte, und floh also von oben deß Kirchengiebels bis auf das Thor herunter samt einer Schubkarre unverletzt!
An dem Tage ist aber noch einer beutelschneiderisch umhergegangen in der Menge, die von dem Seilentänzer zerstreut gewesen, daß der Verdacht aufgekommen, jener wär ein Theil von einem Ganovenduette!
So hat sichs einmal wider
Weitere Kostenlose Bücher