Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vor dem Fest

Vor dem Fest

Titel: Vor dem Fest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Saša Stanišic
Vom Netzwerk:
Speichern, in Cämmern und Dielen, manchem darselbst vom Tische, also er sich umwandt, ist das Essen wider verschwunden.
    Wohin? Keiner wußtes zu sagen.
    Warumb? Einige ahntens wol. Die kamen reuig in die Kirche.

UWE HIRTENTÄSCHEL verlässt das Pfarrhaus und betritt die Nacht, kurz nur, aber lang genug, um in unseren Reigen gezogen zu werden, die linke Hand nimmt der Fährmann, die rechte halten wir. Lassen wir ihn nur noch schnell sein Plakat aktualisieren an der Eiche am Kirchvorplatz:
    21.09. um 17:30 Uhr beginnt der neue Grundkurs des christlichen Glaubens im Pfarrhaus Fürstenfelde. Alle sind herzlichst eingeladen. Wir wollen uns am Annenfeste dem Thema »Rausch« widmen. Nähere Informationen können angefragt werden unter: [email protected]
    Über das Datum schreibt er mit einem roten Marker: H E U T E !!! und zeichnet einen * vor das H.
    Uwe Hirtentäschel pflegt die Kirche, macht sie sauber, animiert andere zum Besuch, redet mit ihnen wohlwollend über den Glauben. Er versorgt sie mit Kerzen und Duftstäbchen, spielt Saxophon vor dem Altar und lässt nach dem Gottesdienst das Radio laufen, damit die Stille nicht so abrupt einbricht. Er kümmert sich, und das ist doch gut, kümmern ist doch gut.
    Auf Hirtentäschels Visitenkarte ist Jesus drauf, der Hirte. Er ist umgeben von Schafen, im Arm ein Lämmchen. Neigt man das Kärtchen, hebt Jesus den Arm und das Lämmchen den Kopf. Auf der Rückseite: Johannes-Evangelium, das mit dem Licht und Jesus folgen und nicht in Finsternis wandeln.
    Uwe Hirtentäschel ist ein geretteter Mann. Gerettet hat ihn der Fährmann oder ein Engel. Hirtentäschel ist dafür jeden Tag dankbar, jeden Tag. Jeden Tag, außer bei schlechtem Wetter, klappt Hirtentäschel mittags unter der Eiche beim Pfarrbrunnen ein Tischchen auf und serviert Tee und Kekse. Alle sind willkommen. Frau Schober hat eine Tischdecke gehäkelt. Frau Schober und Frau Steiner setzen sich meistens dazu, weil sie gerade zufällig in der Gegend sind. Beide knapp vor dem Rentenalter, wobei sich die Steiner prima gehalten hat. Sie trägt noch ein wenig Zeitungen aus, um über die letzte Runde zu kommen, die Schober näht und häkelt. Und mittags dann eben bei Uwe sitzen, zu der Zeit ist sonst auch nicht viel los, das Haus sowieso leer, die Ossis im Mittagsprogramm immer nur Asoziale und Unverbesserliche. Erst am Abend gibt es normale Ossis wie dich und uns im Polizeiruf oder Athletik oder Frauentausch . Die Kircheneiche sorgt für Schatten im Sommer, der Optimismus des Geläuterten für Wärme im Winter.
    Hirtentäschel packt den Marker ein und macht sich auf den Weg ins Pfarrhaus. Das steht in der Karl-Marx-Straße, Ecke Thälmann. Ausgerechnet. Im Dachboden hat er eine kleine Wohnung und sein Atelier. Hirtentäschels letztes Kunstwerk, angefertigt für das Fest, ist zwischen Eichenzweigen gespannt: weiße Tücher. Frau Schober mag die Tücher, weiß aber nicht, was sie darstellen sollen. Es war ihr peinlich, den Künstler zu fragen, um nicht doof dazustehen. Sie hätte tausendmal lieber gesagt: »Schön, schöne Engelsflügel«, als herumzuraten: »Sind das Halbmonde?« Oder: »Hat das Weiß etwas mit Heroin zu tun?« Ehrlich gesagt, wir wissen die Antwort auch nicht, aber das Geräusch ist toll, wie sie jetzt flattern im Wind.
    Uwe Hirtentäschel spricht leise und stellt kaum je Fragen. Er kleidet sich ausschließlich in Weiß oder Schwarz, um Licht und Schatten seiner Biografie zu spiegeln. Die Glatze trägt er freiwillig, die Brille mit den dicken Gläsern, weil er fast blind ist. Das kommt vom Heroin. Jahrelang habe es ihn geblendet, sagt er, geistig und wörtlich. Aus solchen Sätzen spricht der Ernst des glaubhaft Bekehrten. Es ist leicht und angenehm, jemandem zuzuhören, der kaum je witzig sein will.
    Im Dachgeschoss des Pfarrhauses macht Hirtentäschel mit seinen Engelsfigürchen weiter. Er ist müde. Ein oder zwei schnitzt er aber noch, ein oder zwei heute Nacht.
    Das Dorf kennt und mag die Geschichte seiner Erleuchtung. Er erzählt sie ungefragt auch den Touristen, wenn sie nach der Besichtigung der Kirche zum Tee bleiben. Er erzählt sie gern, weil nichts in seinem Leben wichtiger gewesen ist und weil wir alle – seien wir ehrlich – auf ein Wunder warten und gern davon erzählen würden.
    Uwe Hirtentäschel ist in Fürstenfelde geboren und mit fünfzehn aus Fürstenfelde abgehauen. Die nächsten fünfzehn Jahre beschreibt er wie einen einzigen Augenblick und einen nicht enden wollenden Trip. Das

Weitere Kostenlose Bücher