Vor dem Fest
gesehnt hat in unbeständigen Zeiten.
Die alte Windbockmühle ist 1930 abgerissen worden. Ich habe es mit angesehen, wie sie fiel. Das war notwendig, sie war schon baufällig. 1945 ist jetzt das Wohnhaus abgebrannt und zerstört. Ich habe die Flammen gesehen. Das Feuer zu legen war nicht notwendig gewesen. Was weiter wird, weiß keiner. Alles ist vergänglich …
Von Paul Wiese existiert ein Portrait. Kohlestift, von Frau Kranz nach einem Fotoausschnitt gestaltet. Ein Mann mit einem runden Kopf und einem kleinen Schnurrbart. Die Augen bedauern. Uns interessiert historisch, was Wieses Augen bedauern.
Noch mehr interessiert uns, warum am Tag der offenen Tür im Haus der Heimat alle anderen Türen verschlossen werden mussten, solang die Tür zum Archivarium offen stand. Sogar die im Erdgeschoss, und zwar auch, nachdem Frau Kranz bei »Heut ist heut«vom Feuerwehrchor nach Luft japste und gerade noch von Imboden aufgefangen werden konnte.
Klingklang, stoßt an und singt / morgen vielleicht erklingt / Sterbegeläut / Wer weiß, ob nicht die Welt / morgen in Schutt zerfällt / wenn sie nur heut noch hält / heut ist heut!
Für die Neugierigen gab es am nächsten Tag Wieses Melancholikerschrift in Kopie und ab damit an ein Tischchen zwischen den Kachelöfen.
Einblick in das Archiv bekommt bis heute niemand. Sind Archive nicht wegen Einblicken da? Es gäbe doch so viel Material, sagt Frau Schwermuth, und die Sichtung sei noch nicht abgeschlossen. Einige Dokumente seien zudem so fragil, die zittern schon, wenn man sie länger anguckt. So fragil und auch so wertvoll.
Ja, hoffentlich wertvoll! Sonst hätte die Gemeinde wohl kaum teures Geld für das Schloss und das Luftbefeuchtungsdings ausgegeben,während der Nordkurier gleichzeitig den Fahrradfernweg auf Höhe von Fürstenfelde als »schändlich« tadelte: das letzte Mal wurde der geräumt, als Rudolf Scharping für seine Kanzlerkandidatur von Berlin nach Usedom geradelt ist.
Gut, es stimmt nicht, dass wir keinen Einblick in das Archiv haben. Frau Schwermuth ist der Einblick. Sie notiert sich, wonach gesucht wird, und macht Kopien, falls sie etwas findet. Oder macht keine Kopien, sondern sagt: »Kommen Sie übermorgen wieder«, und wir kommen übermorgen wieder. Und wenn es noch länger dauert, sagt sie: »So schnell läuft es in der Vergangenheit nicht«, oder was Ähnliches, und ihr schwerer Kopf schwankt auf dem viel zu dünnen Hals wie diese Pferdchenschaukeln auf ihren Metallfedern.
Es wundert uns, dass sich um den Raum im Keller keine Geschichten ranken. Normal kommt es doch zum Ranken, wenn Keller und Räume und offene Fragen und wir aufeinandertreffen. Uns interessiert historisch das Nichtranken der Geschichten. Zum Beispiel, warum Paul Wieses Eintrag zu Haus Nr. 11, dem heutigen Haus der Heimat, mit einem unvollendeten Satz endet: Im Keller des Hauses fand ich in einem kleinen Raum …
Uns interessieren unvollständige Sätze.
Uns interessiert außerordentlich, wann das Fenster am Haus der Heimat zu Bruch gegangen ist und wem die Bewegung im Haus gehört, die Uwe Hirtentäschel aus seinem Atelier gerade beobachtet: die Silhouette eines Menschen, und ein Lichtschein wandert über die Wand.
Das ist doch, ja, das ist doch mal wirklich interessant.
IM JAR 1592 IST EIN SEHR FEUCHTER SOMMER GEWESEN , wobey der Regen gleich Wolkenbrüchen herab gefallen, und Felder und Wiesen überschwemmet und die Gärten verödet sind, und der Grosse See so aufkommen, daß die Karpfen im Teiche daselbst ausgebrochen. Von der Nässe sind auch Rindvieh und Schafe fäulisch geworden, dero viele crepiert und gantze Schäfereien ausgestorben, auch hat man dergl. an den Hasen bemerket. Den Herbst ist eine außerordentliche Dürre einfallen, davon das Land gantz intractabel worden ist und die Ernte schlecht ausgefallen. Das Volck litt und fürchtete den Winter, ein grosser Hunger dräute.
Den 2. November wunderbarlich unter der Kirchen Eiche sind aber am Morgen gewesen fünf Wägen voll Korn, Butter, Trockenfleisch, Bier, deren Ursprung niemand aufzukleren gewußt. Die Kirche hat auf Dankesgebete gewartet und ist gantz leer geblieben. Wol aber hat ein Gezenk angefangen, darumb, wem die Speisen gehörten. Derb und unchristlich und den Thieren gleich, ein Fuchs hat gar zugesehen, nahm ein Jeder sich, was er tragen konnte, und dem anderen, der mehr getragen, stellte er ein Bein.
Die Freude an der Beute währte nicht lang, dieß Wunder zerrann gleichsam wunderbar. Aus Kellern, von
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