Vor dem Fest
sei eine Zeit voll mit kleinen Erleuchtungen im Drogenrausch gewesen, die er »Verlorenheiten« nennt: falsche, unstete Freuden, Sirenengesang. Sünden. Dann aber erlebte er die große Epiphanie, seine »Gefundenheit«. Er fand sie in Fürstenfelde.
Nach Jahren des Drogenkonsums und der Sucht war Hirtentäschel eines frühen Morgens auf dem Weg zur Ostsee am Woldegker Tor vorbeigefahren, und da war die Mauer, da waren die Seen, da war die Promenade, das Fährhäuschen, alles wie immer, und er stieg aus, musste aussteigen, setzte sich an den See und trank sein vielleicht sechstes Bier an dem Tag, ja, und da kam der Fährmann vorbei. Er erkannte Hirtentäschel. Den Jungen erkannte er, der irgendwann einfach weg war, seine Eltern mit tausend Fragen zurückgelassen hatte. Von den Verlorenheiten habe der Fährmann nichts gewusst, aber seine Dämonen, sagt Hirtentäschel, habe er wohl erkannt.
Er nahm ihn mit auf eine Bootsfahrt und verlangte, dass Hirtentäschel mitanpackte. Hirtentäschel rief, kaum ist man zurück, schon wollt ihr, dass man euch die Arbeit abnimmt, aber der Fährmann fand das lustig. Hirtentäschel, Haut und Knochen, ruderte. Es fiel ihm irrsinnig schwer. Mitten auf dem See ging es nicht weiter. Da nahm der Fährmann ihm ein Versprechen ab. Er wollte, dass Hirtentäschel ihm zuhörte, er wollte ihm eine Geschichte erzählen. Hirtentäschel willigte ein und hörte zu und konnte sich aber nicht konzentrieren und weiß bis heute nicht, worum es in der Geschichte gegangen ist. Sie waren am Scheunenwerder angekommen. Hirtentäschel stieg aus, und kaum dass er sich umgedreht hatte, war er allein, umgeben von hohem Gras und Insekten. »Ich rief nach dem Fährmann, aber nur ein Eichelhäher antwortete. Ich wollte ans Wasser zurück, aber auch das Wasser war weg, ich konnte das Wasser nicht mehr finden, stellt euch das vor, und ihr werdet wissen, wie schlecht es damals um mich stand.«
An dieser Stelle macht Uwe Hirtentäschel gern eine Pause. Frau Steiner und Frau Schober haben die Geschichte so oft gehört, dass sie bei der Erwähnung des Eichelhähers tonlos »Eichelhäher« mit den Lippen formen und einander zunicken, so auch heute, als er die Geschichte einem Freizeittaucher erzählt hat, so auch bei »trüb« und »morsch« im nächsten Satz:»In meinem Kopf war es trüb«, sagt Hirtentäschel, »und mein Geist war morsch, und da stand eine Trauerweide und wuchs dieses Moos, weich und dicht, darauf wollte ich mich hinlegen, einen Joint durchziehen, runterkommen, aber da traf mich etwas im Nacken, und ich kippte um, und etwas schlug gegen meinen Rücken, einmal, zweimal, es tat höllisch weh, brach mich, machte mich fertig, ich konnte absolut nichts dagegen tun. Der Fährmann verprügelte mich! Mit dem Paddel drosch er auf mich ein, traf mich am Kopf, am Arm. Ich konnte es mir nicht erlauben, das Bewusstsein zu verlieren, ich wollte den Fährmann sehen über mir, seinen Bart voller Gras. Die Schläge prasselten auf mich nieder, mein Licht, dachte ich, mein Beschützer, dachte ich, und – schwarz.
Als ich zu mir kam, lag ich nackt wie ein Grashalm auf dem Moos. Es war dunkel. Der Halbmond hing über mir, und es wäre schöner, wenn es Vollmond gewesen wäre, aber gut. Wind ging über den See, drüben das Dorf, die gütige Kirchspitze. Der Fährmann stand im Wasser, angeleuchtet von einem seltsamen Stein. Er fing Fische mit bloßen Händen. In seinem Boot lagen zehn, fünfzehn Hechte, schlugen mit dem Schwanz, starben. Ich war schon gestorben. Ich legte mich zu den Fischen. Ich wusste etwas. Etwas wusste ich, und das war das allererste Mal, dass ich mit Sicherheit sagen konnte: Ich weiß. Der Stein leuchtete heller als der Mond. Der Fährmann war ein Engel auf Erden. Er hatte mir das alte Leben genommen und mir ein neues gefunden. Das war es, was ich wusste.
Der Fährmann brachte mich ins Dorf. Schmerzen hatte ich keine, Spuren der Schläge waren nicht zu sehen – er hatte mich geheilt. Ich versprach, ihm zu dienen. Der Fährmann fragte, ob ich denn immer noch drauf bin und wo ich unterkommen will. Ich hatte gehofft, er würde es mir sagen. Da erfuhr ich, dass meine Eltern vor Jahren weggezogen waren, aber im Pfarrhaus war ein Zimmer frei. Pfarrhaus, natürlich. In dem Zimmer lebe ich noch heute.«
In dem Zimmer gähnt Uwe Hirtentäschel. Das Prasseln des Regens macht ihn schläfrig. Er packt das Werkzeug zusammen. In der Eiche zittern die Engelsflügel, die Halbmonde, die Paddel, die Tränen.
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