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Vor dem Fest

Vor dem Fest

Titel: Vor dem Fest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Saša Stanišic
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drückt auf den Knopf zur Geldrückgabe. Nichts.
    »Sie waren Soldat, oder?«
    »Ich hab niemanden in die Schlacht geführt. Scharf geschossen wurde mal in Kasachstan. Zur Übung. Hier wurde vor allem der Himmel gesichert.«
    »Der Himmel?«
    »Und es gab immer Technik zu warten und etwas zu putzen. Denk mal nach. Über das Putzen von Flugabwehrraketen.«
    Anna starrt ihn an. Prüfend. Das kann man schon mal sagen. Anna starrt Herrn Schramm prüfend an. Sie hat ihn in seinem Wagen prüfend angestarrt, und als sie auf dem Hof den Ausweis holten, und als er fragte, ob sie wisse, dass die Russen auf dem Feld unter ihrem Fenster Dutzende Leute erschossen hätten.
    »Weißrussen«, hatte Anna erwidert und ihn prüfend angestarrt, und tut das jetzt wieder, da er den Kopf gegen den Automaten lehnt. Hat jemand vor, sich umzubringen, dann starrst du den an.
    »Lass doch«, sagt Herr Schramm, ohne aufzusehen.
    Anna starrt weiter. Sie hat zu Hause ihr Asthma-Spray geholt, für den Notfall, aber auch ihr Telefon, für alle Fälle. Noch möchte sie es nicht nutzen. Der Regen lässt nach.
    Herr Schramm läuft los. Am Friedhof biegt er zum See ab. Der Weg ist matschig, steil, Anna versucht, Schritt zu halten. Herr Schramm schert sich nicht um Boden und Witterung. Der Name von seinem Vater ist einer der Namen am Soldatendenkmal auf dem Friedhof.
    Unterhalb des Friedhofs passt das nicht: die Glocken an der Promenade. »Sag mal«, sagt Herr Schramm, »was soll das denn jetzt?« Er betrachtet die Glocken. Die Regentropfen lassen sie sachte klingen. Anna hat immer noch Augen nur für ihn.
    »Geht es Ihnen heute Nacht auch so, dass Sie ständig Erinnerungen haben?«, sagt sie.
    »Ich«, sagt Herr Schramm, »habe ständig ständig Erinnerungen.«
    Seit Anna Herrn Schramm in seinem Wagen gefunden hat, sind sie keinem Menschen begegnet. Nun kann sie in einiger Entfernung die Leuchte der Malerin im sonst schwarzen See erahnen. Bloß möchte Anna den Schramm jetzt mit niemandem mehr teilen.
    »Warum fragst du?«
    »Ich bin Montag weg hier.«
    »Abschied. Mhm.«
    »Ich erinnere mich an meine Zeit hier und überlege, was ich vermissen werde. Ich glaube, am meisten werde ich vermissen, meine Jugend nicht woanders verbracht zu haben.«
    Schramm klopft auf die Glocken. Legt seine große Hand der Alten auf den Mantel. »Wir hatten«, sagt er und streicht über die Glocke, »mal einen usbekischen General zu Besuch.«
    »Bei den Raketen?«
    »Bei den Raketen. Er blieb fünf Tage bei uns, und danach war die Abteilung nicht mehr dieselbe. Es ging ja sowieso alles schon den Bach runter, die Wirtschaft, alles, aber das war es nicht. Dieser Mann, Trunov hieß der, der hat in den fünf Tagen bei uns gelebt, wie wir alle ein Leben lang am liebsten gelebt hätten. Als er weg war, ist jeder wieder in seinen Trott verfallen, und die Moral, die war mit dem General nach Usbekistan oder sonst wohin.«
    »Ich würde das jetzt gern verstehen.«
    »Ja, aber wie sich das gleich anhören wird…« Schramm riecht an seiner Hand. »Gut, hör zu. Man kann nicht einen Ort oder einen General für –« Schramm schüttelt den Kopf. »Der Trunov hatte uns befohlen, einen Gemüsegarten anzulegen. Hätten nicht gehorchen müssen, haben es aber. Haben ihm sogar einen Namen gegeben.«
    »Trunov-Garten?«
    »Der Gemüsegarten vom Genossen General Paša Trunov. Der hat Jahr um Jahr die prächtigsten Paprika gegeben. Meine Güte.«
    Herr Schramm hustet, aber es könnte auch ein Lachen gewesen sein. Er geht in die Hocke. »Leuchte, komm mal her. Siehst du das?« Er zeigt auf den Boden bei den Glocken. Einer ist hier stecken geblieben. Da sind Reifenspuren.«
    »Und?«
    »Zähl mal eins und eins zusammen.«
    Anna ist nicht nach Rätseln. Sie scheint die Glocken überhaupt jetzt erst wahrzunehmen. Spannend findet sie die nicht. Auch Herr Schramm wendet sich ab. Er möchte Anna etwas zeigen, sie soll auf die Mauer klettern.
    »Und jetzt?«, fragt Anna von oben.
    »Märchenstunde«, sagt Herr Schramm.









DIE FÄHE FOLGT DEM AROMA VON HUHN über die erhellten Steinpfade zwischen den Menschenbauten. Hier könnte Gefahr überall lauern. Eine lauert schon. Ein Männchen. Die Fähe schmeckt sein wundes Fleisch. Er steht still vor einem Bau, den sie selbst gern besucht. Darin machen die Menschen das, was die Menschen am liebsten machen: aus einer Sache eine andere. Aus Getreidestaub große, feste, knusprige Stücke. Und selten, aber köstlich, werden die hinter dem Bau abgestellt, wo

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